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Vor der Jahresuntersuchung steigt bei ­Alexandra B. die Aufregung. Sie ist vor allem auf das Brustkorb-Röntgen gespannt. Das zeigt, in welchem Zustand die Lunge ihrer Tochter Lena ist. Lena ist vier Jahre alt und hat Mukoviszidose. Ein genetischer Defekt bringt in ihrem Körper den Salz- und Wasserhaushalt durcheinander. Bei Betroffenen wie ihr bildet sich in verschiedenen Organen zähflüssiger Schleim, der Lena schadet. Die Lunge und die Bauchspeicheldrüse sind meistens betroffen, je nach Form des Defekts auch andere Organe. Lena hat Zysten in der Niere, eine Transportstörung in den Harnleitern und auch ihr Darm ist beeinträchtigt. „Weil ihre Bauchspeicheldrüse nicht richtig funktioniert, fehlen ihr Verdauungs­enzyme“, erklärt Mutter Alexandra B. Diese nimmt das Mädchen nun bei jedem Essen zu sich.

Personal- und Bettenmangel

Wenn Vertreter der Pädiatrie vor den Folgen eines Kollapses der Kinderkliniken gerade für komplex erkrankte Patientinnen und Patienten warnen, dann meinen sie Kinder wie Lena. Sie leiden besonders darunter, dass in den vergangenen Jahren Kliniken, Betten und Personal abgebaut wurden und aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen immer mehr ärztliches und vor allem pflegerisches Personal fehlt.[1] Eine Entwicklung, die Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) aktuell zunächst mit zusätzlichem Geld stoppen möchte, bevor er die Finanzierung der Kindermedizin wohl von Grund auf verändern will. „Die Fami­lien chronisch und komplex erkrankter Kinder“, sagt Klaus-Peter Zimmer, „können nicht mehr auf ­eine kompetente Behandlung vertrauen.“

Ungerechtes Abrechnungsmodell

Der emeritierte Professor war bis vor gut ­einem Jahr zuständig für die Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Gießen. Er ist Vorsitzender der Krokids-Stiftung. Sie unterstützt chronisch kranke Kinder. Er sieht nicht nur im Akutfall Probleme, wenn Kinder wegen fehlender Betten in Kliniken abgewiesen werden und mitunter in Krankenhäusern landen, die sie nicht gut behandeln können. Auch die Grund­ver­sorgung sei gefährdet, die häufig spezielle Ambulanzen an Kliniken sichern.

Als Chefarzt hat Klaus-Peter Zimmer erlebt, wie das Fallpauschalensystem – bei dem stationäre Behandlungen über Pauschalen abgerechnet werden –, den Druck immer weiter erhöht hat, als Krankenhaus Geld zu verdienen. „Das ist gerade in der Kinderheilkunde aber kaum möglich“, sagt er, und zwar nicht nur, weil man in der Pädiatrie bestimmte Untersuchungen und Eingriffe möglichst vermeide, die im Fallpauschalensystem, auch DRG-System genannt, aber oftmals gut bezahlt sind. DRG steht für „diagnosis-related groups“. Zu Deutsch: diagnosebezogene Fallgruppen.

Kinderkliniken stoßen oft an wirtschaftliche Grenzen

2004 wurde ein pauschales Abrechnungssystem im deutschen Gesundheitswesen eingeführt. Seitdem sind diagnosebezogene Fallgruppen, auch DRGs genannt, die Grundlage für die Vergütung von Leistungen pro Behandlungsfall im Krankenhaus. Besonders die Kindermedizin leidet darunter.

Es gibt weitere Besonderheiten, die vom Abrechnungssystem trotz Anpassungen noch immer unzureichend abgebildet werden: In den Kinderkliniken laufen die meisten Fälle etwa nicht geplant auf, sondern als Notfälle und jahreszeitlich unterschiedlich, was zu Auslastungsproblemen führt. Auch machen Kinder oft nicht mit, sodass selbst eine Blutabnahme lange dauern kann. Und manchmal müssen Eltern „mitbehandelt“ werden, wie Klaus-Peter Zimmer es nennt. Sie haben Ängste und Fragen, wollen umfassend informiert und begleitet werden.

Besonders aufwendig ist die Therapie von seltenen und komplexen Erkrankungen, die vor ­allem im Kindesalter entdeckt und oft von spezialisierten Teams behandelt werden. Die Fixkosten sind kaum über die vorhandenen Fälle zu decken. Lena etwa wird an der Mukoviszi­dose-Ambulanz der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) betreut. Sie ist 80 Kilomenter entfernt vom Wohnort Cremlingen bei Braunschweig. Vier Untersuchungen pro Jahr sind eingeplant und Lena muss immer dann in die Klinik, wenn akute Probleme auftreten.

Interdisziplinäre Teams vonnöten

Bei den regelmäßigen Terminen arbeitet ein breit aufgestelltes ärztliches, therapeutisches und psychologisches Team zusammen. Es schaut nicht nur auf Lenas Organe, sondern auch auf die mentale Gesundheit der Familie, berät bei der Ernährung und gibt Tipps zur täglichen Bewegung und Gymnastik. Die ist wichtig, um den Schleim in Lenas Körper zu lösen. „Die Untersuchungen dauern meist mehrere Stunden“, erzählt Alexandra B.

Dass Lena statistisch gesehen ihren 50. Geburtstag feiern wird, hat viel mit dieser ausgefeilten Therapie zu tun, die dank des Neugeborenenscreenings in der Regel früh beginnen kann. Wäre Lena Anfang der 2000er-Jahre geboren, ­läge ihre Lebenserwartung nur halb so hoch.[2] Die Entwicklung führt dazu, dass immer mehr Menschen immer länger mit dem Gendefekt leben – medizinisch betrachtet eine Erfolgsgeschichte.

Betriebswirtschaftlich aber eher nicht: Zwar hat sich die Finanzierung an einzelnen Ambulanzen in der Vergangenheit verbessert, dennoch sind viele Kliniken froh, wenn sie damit annährend eine schwarze Null schreiben.[3] „Über vielen Einrichtungen schwebt das Damoklesschwert der Unterfinanzierung. Das bereitet ihnen auch Probleme, Fachkräfte zu gewinnen”, sagt Katharina Heuing von der Patientenorganisation „Mukoviszidose e.V.“. Sie drohen auszubluten, obwohl die Strukturen mit dem Mehr an Patienten eigentlich wachsen und sich auch besser auf Erwachsene einstellen müssten. Denn sie werden heute vielfach von pädiatrischen Einrichtungen weiterbetreut. Dabei hat die starke Selbsthilfe bei der Mukoviszidose sogar dafür gesorgt, dass Kliniken Leistungen wenigstens einigermaßen abrechnen können.

Manchmal fällt selbst die Uniklinik aus

„Bei anderen chronischen Erkrankungen sieht das noch ganz anders aus“, sagt Professorin Anna-Maria Dittrich. Sie leitet die Mukoviszidose-Ambulanz der MHH und betont, dass es solche Ambulanzen an Unikliniken auch ohne ausreichende Refinanzierung geben müsse. „Wir haben den medizinischen Nachwuchs auszubilden, und der muss auch seltene und komplexe Erkrankungen sehen“, sagt sie. Ganz abgesehen davon, dass sich schließlich jemand um die vielen betroffenen Kinder hierzulande kümmern müsse.

Wie es ist, wenn selbst die Uniklinik ausfällt, erlebt Familie S. aus der Nähe von Rostock. Ihr Sohn Pablo kam mit einem hypoplastischen Rechtsherzsyndrom zur Welt. Also ohne ausgebildete rechte Herzkammer, die ­eigentlich sauerstoffarmes Blut in die Lunge befördert. Nach zwei Operationen lebt der Vierjährige mit einem sogenannten Fontan-Kreislauf, der das Blut ohne Unterstützung einer Herzkammer in die Lunge fließen lässt.

Pablo ist angewiesen auf eine Medizin, wie sie eine Uniklinik bieten sollte, nur steckt die Pädiatrie in Rostock in der Krise. Verbände prangern Personalmangel, fehlende Spezialisierungen bei den Ärztinnen und Ärzten und schlechte Arbeitsbedingungen der Fachkräfte an. „Schon lange gibt es an der Uniklinik keinen Kinderkardiologen mehr“, sagt Mutter Sandra S.

Telemedizin für Kinder

Telemedizin bringt die Kinderklinik aufs Land

Um die Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Mecklenburg-Vorpommern und Nord-Brandenburg zu stärken, bieten zwölf regionale Krankenhäuser über eine gemeinsame Plattform Videosprechstunden an. Initiiert hat das Projekt die Unimedizin Greifswald zum Artikel

Mehr als 200 Kilometer in die Klinik

Für die jährliche Herzkatheter-Untersuchung etwa fährt die Familie deshalb ins mehr als 200 Kilometer entfernte Berlin und hofft, dass akut nichts Schlimmeres passiert. „Als einmal Pablos Sauerstoffsättigung zu stark gefallen ist, hat die Uniklinik ihn nach Berlin geflogen”, sagt Sandra S. Auch, als er einen Blinddarmdurchbruch hatte, ging es mit dem Hubschrauber dorthin. „Und selbst seine Rachenmandeln, mit denen er Probleme hat, würden in Rostock nicht operiert werden“, erzählt die Mutter.

Für Klaus-Peter Zimmer zeigen solche Bei­spiele, dass das bisherige System gescheitert ist. Er hofft, dass die Finanzierung der Kindermedizin aus dem DRG-System genommen wird. Aber auch, dass die Gelder dann wirklich in die Behandlung fließen: „Aktuell obliegt es den Geschäftsführungen, wieviel Geld eine Abteilung erhält und wieviel etwa für Investitionen genutzt wird“, sagt Zimmer. Im schlimmsten Fall finanzierten Eltern dadurch mit ihren Kranken­kassenbeiträgen Parkhäuser, während für die Therapie von Kindern wie Lena und Pablo das Geld fehlt.


Quellen:

  • [1] Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung: Erste Stellungnahme und Empfehlung der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung, Empfehlungen der AG Pädiatrie und Geburtshilfe für eine kurzfristige Reform der stationären Vergütung für Pädiatrie, Kinderchirurgie und Geburtshilfe. https://www.bundesgesundheitsministerium.de/... (Abgerufen am 05.12.2022)
  • [2] Manuel Burkhart, PD Dr. Lutz Nährlich: Zahlen, Daten & Fakten für Patienten & Angehörige, Daten aus dem Deutschen Mukoviszidose-Register. https://www.muko.info/... (Abgerufen am 05.12.2022)
  • [3] Robert Dengler: Ambulante spezialfachärztliche Versorgung: Steht der Patient im Mittelpunkt?. GGW 2021: https://www.wido.de/... (Abgerufen am 05.12.2022)