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Günther Kleis, 90, erlebte als Kind den Zweiten Weltkrieg und die Flucht aus seinem Heimatort in Schlesien nach Niedersachsen. Seine Tochter Constanze, 65, war dabei, als in Bonn Hunderttausende Menschen gegen den NATO-Doppelbeschluss und mit der Überzeugung, dass Krieg nur durch Abrüstung zu verhindern sei, auf die Straße gingen. Der Enkel Simon, 28, wuchs in Finnland auf, wo man wegen der räumlichen Nähe zu Russland schon immer auch den Verteidigungsfall mitdenkt.

Wie prägt die Erfahrung die Haltung zum Krieg? Ein Gespräch der Generationen.

Constanze: Seit zwei Jahren ist Krieg in Europa. Ich hätte nie gedacht, dass wir uns je wieder würden mit dem Thema beschäftigen müssen.

Simon: Ich schon. Also wenigstens ein bisschen. Ich bin in Finnland aufgewachsen. Da ist diese Gefahr wegen der Nähe zu Russland schon immer präsenter. Deshalb muss jedes größere Wohnhaus auch einen Schutzraum haben. Allein in Helsinki gibt es 5500 Luftschutzanlagen.

Günther: Ich wüsste gar nicht, wo hier in meiner Nähe ein Bunker ist. Ich war überzeugt, dass wir die nie wieder brauchen werden. Nach den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs.

Würde ich wirklich kämpfen?

Simon: Du bist ja der Einzige von uns mit Kriegserfahrung. Du warst fünf, als Deutschland Polen überfiel, hast deine ganze Kindheit quasi im Krieg verbracht. War das nicht furchtbar?

Günther: Ich bin in einem kleinen Dorf in Schlesien aufgewachsen. Da waren wir bis fast zum Schluss – im wahrsten Sinne – weitab vom Schuss. Mein Vater war zu krank und zu alt, um noch an die Front zu müssen. Und ich, als der erste Sohn nach sieben Mädchen, war zu jung. Sogar später für den Volkssturm. Mein Vater wurde dafür allerdings noch zwangsverpflichtet. Zum Glück musste er nur eine Brücke bewachen, die dann ohnehin gesprengt wurde.

Simon Kleis, 28, ist der Enkel von Günther Kleis und Neffe von Constanze Kleis. Der Ingenieur wuchs teilweise in Finnland auf, lebt heute mit seiner Partnerin in Schweden.

Simon Kleis, 28, ist der Enkel von Günther Kleis und Neffe von Constanze Kleis. Der Ingenieur wuchs teilweise in Finnland auf, lebt heute mit seiner Partnerin in Schweden.

Constanze: Du hast einmal erzählt, dass in eurem Dorf Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene für die Feld- und Hausarbeit eingesetzt wurden.

Günther: Bei den Nachbarn. Nicht bei uns. Ich hatte sieben ältere Schwestern und zwei jüngere Brüder. Bei zwölf Paar Händen gab es bei uns keinen Bedarf. Aber ich weiß, wie schlecht die Kriegsgefangenen behandelt wurden. Als die Polen dann nach Kriegsende übernommen haben, wurden manche Bauern dafür schwer verprügelt. Ich fand das damals irgendwie fair.

Simon: Auch, dass ihr dann euer Haus und das Land verlassen musstet?

Günther: Ich kann mich nicht an Frust erinnern. Obwohl es den sicher gab. Was ich noch weiß, ist, dass wir gleich mehrmals geflohen sind, weil es hieß: Die Russen kommen. Einmal haben wir Wochen im Wald kampiert und abgewartet, was passiert. Und einmal hatte sich die Abfahrt um ein paar Stunden verzögert. Das Nachbardorf war schon früher aufgebrochen und in Tieffliegerbeschuss geraten. Als wir losfuhren, lagen überall Leichen im Graben. Man konnte ja nicht beerdigen. Das ist mit Abstand das Schlimmste, woran ich mich erinnere.

Simon: Ein Albtraum – aber wieso seid ihr dann zurückgekommen?

Günther: Es war ja unser Zuhause und es hieß, die Russen seien zurückgeschlagen. Außerdem war mein Vater noch dort. Er war ja im Volkssturm und wäre erschossen worden, wenn er seinen Platz verlassen hätte. Deshalb haben wir das Kriegsende letztlich auf unserem Hof erlebt. Danach kam bald ein Lkw mit Polen auf den Hof gefahren, die sagten, wir hätten zwei Stunden Zeit, das Haus zu räumen. Jetzt würde es ihnen gehören.

Simon: Ich kann mir das nicht vorstellen: alles weg. Plötzlich gehört einem nichts mehr. Wie zieht man einen Zwölf-Personen-Haushalt um?

Günther: Mit Koffern, Taschen und Säcken. Mit dem, was man selbst tragen kann. Wir hatten ja nicht viel. Ein paar Klamotten und Essen.

Constanze: Krieg ist ja auch Flucht und Vertreibung. Das sehen wir nun wieder: wie Frauen aus der Ukraine hierher kommen, mit nichts als ihren Kindern an der Hand, einem Koffer und der Angst, dass sie ihre Männer, Väter, Brüder nie wiedersehen könnten. Kennst du das?

Günther: Vor allem kenne ich das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Wir wurden – wie viele andere Flüchtlinge aus Schlesien – damals in Niedersachsen in einem Dorf zwangseinquartiert. Die Bewohner waren alles andere als begeistert, manche haben uns das spüren lassen. Heute denke ich, dass es vollkommen legitim ist, Schutz zu suchen, und dass wir eine Verpflichtung haben, Menschen zu helfen, die vor Kriegen fliehen.

Simon: Auch wenn sie eigentlich für ihr Land kämpfen sollten? Ich habe in Finnland Wehrdienst geleistet. Ehrlich gesagt nur deshalb, weil der für mich kürzer war als der Zivildienst. Der dauert immer zwölf Monate. Der Wehrdienst kann – je nach Ausbildung – nur sechs Monate lang sein. Ich hätte nie gedacht, dass ich damit irgendwann mal wirklich an einer Front landen könnte. Jetzt muss ich mich fragen: Würde ich wirklich kämpfen? Und auch: Was passiert, wenn ich das nicht will?

Günther Kleist er an eine Schulzeit zu Kriegszeiten: Richtigen Unterricht gab es damals nicht.

Günther Kleist er an eine Schulzeit zu Kriegszeiten: Richtigen Unterricht gab es damals nicht.

Constanze: Ich musste mich zum Glück nicht entscheiden. Aber ich hätte damals sicher verweigert. Es gab ein Lied von Edwin Starr, das fragt: „War – what is it good for?“ und die Antwort gibt: „Absolutely nothing!“ Das war meine Einstellung. Und die Hymne bei den Friedensdemonstrationen, bei denen ich mitgelaufen bin.

Simon: Würdest du das auch heute noch sagen: Kein Krieg – unter keinen Umständen?

Constanze: Ich habe an mir eine überraschende Wendung entdeckt. Ich finde es legitim, dass sich die Ukraine verteidigt. Dass sie für ihre Freiheit kämpft. Meine Ängste dürfen anderen nicht vorschreiben, wie sie zu leben, was sie zu akzeptieren haben. Ich finde Krieg ein enormes, unfassbares, grauenhaftes Übel – aber eines, das manchmal unausweichlich ist.

Meine Ängste dürfen anderen nicht vorschreiben, wie sie zu leben, was sie zu akzeptieren haben.

Günther: Mir geht es ähnlich. Ich habe immer gesagt: Nie wieder Krieg. Aber wenn er ein Mittel ist, einen Tyrannen zu stoppen – dann muss das auch in unserem Interesse sein. Auf der anderen Seite wäre meine größte Angst, dass meine Enkel Kanonenfutter abgeben müssen.

Simon: Ich bin ehrlich: meine auch. Und ich kenne mittlerweile einige, die sich im Nachhinein noch zum Zivildienst anmelden – obwohl sie Wehrdienst geleistet haben. In der Hoffnung, dann nicht an die Front zu müssen.

Constanze: Ich kann das verstehen. Ich verstehe auch Freundinnen, die sagen: Egal, wie hoch der Preis ist und wenn wir im Zweifel Putin an unseren Grenzen durchwinken müssten – alles ist besser, als zu riskieren, dass wir Teil des Krieges werden. Ich habe gesehen, wie im russischen Fernsehen mit Raketen geprotzt wird, die in sechs Minuten 2500 Kilometer weit kommen.

Simon: Letztlich kann ich mir nicht vorstellen, wie Krieg ist. Ich denke an einen Freund, der mal in eine Schießerei zwischen Kriminellen geraten war und erzählte: Es fühlte sich an, als wäre er mitten in Dreharbeiten. Total unwirklich. Opa, kannst du sagen, wie sich Krieg anfühlt?

Es war ja unser Alltag, dass wir Dorfjungs mit den Tonnen von Munition spielten, die eine Vierlingsflak im Wald hinterlassen hatte

Günther: Nein, ich war elf Jahre alt. Es war ja unser Alltag, dass wir Dorfjungs mit den Tonnen von Munition spielten, die eine Vierlingsflak im Wald hinterlassen hatte. Dass der Lehrer gleich mehrere Jahrgänge unterrichtete oder eher „beaufsichtigte“. Ein 19-Jähriger, der nur vorne stand, weil er schwer verwundet nicht mehr kriegstauglich war und unser Lehrer irgendwo in Russland kämpfte. Dass, als die Russen kamen, sich die jungen Frauen – also auch meine Schwestern – in den Feldern versteckten und verraten wurden. Schrecklich. Aber es war eben auch meine Jugend. Ich bin froh, dass euch das erspart geblieben ist – und ich hoffe, dass das auch so bleibt.