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Als Anke Löhr* den braunen Umschlag sieht, stellen sich ihr die Nackenhaare auf. Sie wirft einen besorgten Blick hinein. Darin ist eine Unterhose von ihr. Außerdem angebliche Chat-Verläufe zwischen ihr und ihrem Ex. „Ich werde die Sache diskret behandeln“, sagt ihre Sekretärin und verlässt das Einzelbüro.

Anke ist schlecht. Sie fühlt sich so ausgeliefert. Auch hier, an ihrer neuen Arbeitsstelle, streckt er seine giftigen Fühler nach ihr aus. Einmal mehr will er sie bloßstellen, die Wahrheit verdrehen. Schließlich war der Umschlag nicht direkt an sie adressiert. Nein. Er hat ihn gezielt an ihren Arbeitgeber gesendet. Jetzt hat die Sekretärin eine Ahnung von Anke Löhrs schwierigem Privatleben. Und einmal mehr gerät sie deshalb in Erklärungsnot.

Das Gefühl der Hilflosigkeit

Was der 38-Jährigen passiert ist, liegt mittlerweile über zehn Jahre zurück. Ihre traumatischen Erinnerungen sind lückenhaft. Was noch sehr greifbar ist, ist dieses Gefühl der Hilflosigkeit. „Ich hatte Angst vor ihm und vor seiner Unberechenbarkeit“, erzählt Löhr. „Seine verdrehte Wahrnehmung hat mich fertiggemacht. Er gab sich als Opfer, machte mich zur Täterin, zur Schuldigen.“

Löhrs Ex-Freund stalkte sie nach dem Beziehungsaus mehrere Jahre. Er schrieb Briefe, rief nachts an, schickte unter falschem Namen Nachrichten, kontaktierte Familie und Freundeskreis. Er wurde immer mehr zum düsteren Schatten. Einmal sei er in einer Diskothek wie aus dem Nichts auf sie zugekommen und habe ihr auf der Tanzfläche ins Gesicht gespuckt. Ein anderes Mal, noch während ihrer gemeinsamen Beziehung, habe er sie beim Sex gewürgt, bis sie bewusstlos zusammengesunken sei. Erst am nächsten Morgen kam durch einen heruntergerissenen Duschvorhang die Erinnerung an das Geschehene zurück.

Stalking ist in Deutschland strafbar

Der Begriff „Stalking“ kommt aus dem Englischen, bedeutet dort in der Jagd so viel wie „sich anpirschen“ oder „anschleichen“. Im zwischenmenschlichen Kontext ist beharrliche Belästigung über einen längeren Zeitraum gemeint. Ständige Anrufe, Geschenke oder Nachrichten gegen den Willen des oder der anderen, aber auch jemandem auflauern, drohen, ihn beleidigen oder Lügen verbreiten: All das ist Stalking.

In Deutschland handelt es sich dabei um eine Straftat gegen die Freiheit der Lebensgestaltung (§ 238 StGB). Tätern drohen bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe. Das war nicht immer so: Erst seit 2007 steht „Nachstellung“ im Strafgesetzbuch. „Betroffene mussten für eine Verurteilung des Täters nachweisen, dass sie alles versucht haben, um dem Stalking aus dem Wege zu gehen“, erklärt Celine Sturm von der Opferberatung Weißer Ring. Dafür wurde beispielsweise vorausgesetzt, dass Betroffene umziehen oder den Arbeitsplatz wechseln. Ein enormer Aufwand für Stalking-Opfer, der 2017 vereinfacht wurde. Sturm ordnet ein: „Jetzt muss man ‚nur‘ noch nachweisen, dass man beharrlich bedroht wird und die Lebensgestaltung eingeschränkt ist.“

Nur Wenige erstatten Anzeige

Für Anke Löhr war eine Anzeige keine Option. Sie hatte sich damals bei einer Stalking-Beratung informiert. Ihr wurde gesagt, man werde zu zweit vorgeladen – also sie als Anklagende und ihr Stalker. Sie beide müssten dann zur vorgeworfenen Situation Stellung beziehen. Am Ende würden Richter oder Richterin entscheiden, wie es weitergeht.

Aber Löhr sah keine Chance, sich gegen ihren Ex-Freund zu behaupten. „Er wäre in seinem teuren Anzug angekommen, mit seiner charmanten, eloquenten Art, und hätte genau erklärt, warum ich die eigentlich Irre bin“, erklärt Löhr ihre damalige Entscheidung.

Was hätte sie entgegenhalten können? Ihre Selbstzweifel waren einfach zu groß. So wie Löhr geht es vielen. Die wenigsten Betroffenen wagen den Gang zur Polizei. Verschiedene Studien ergeben eine Spannweite von drei Prozent bis maximal 20 Prozent an Betroffenen, die Anzeige erstatten. Die Dunkelziffer der Opfer ist sehr groß.

„Das Ex-Partner-Stalking kommt dabei am häufigsten vor“, weiß Prof. Dr. Harald Dreßing. Er leitet den Bereich Forensische Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. „Wenn die Beziehung zerbricht, ist das häufig der Ausgangspunkt für Stalking, überwiegend durch den Mann.“ Dahinter stecken laut Dreßing oft Rache und das zwingende Bedürfnis, weiter Macht und Kontrolle auszuüben. Manche Stalker erhoffen sich auch, die Partnerin durch ihr Verhalten zurückzugewinnen.

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Auf Warnsignale hören

Schon während ihrer Beziehung habe es viele übergriffige Situationen gegeben, erinnert sich Anke Löhr. Sie hatte Thomas* über ein soziales Netzwerk für Studierende kennengelernt. Die beiden verabredeten sich, er umgarnte die damals Mitte 20-Jährige mit Komplimenten, war dabei großzügig und obendrein sehr attraktiv. „Da war nichts, wo ich dachte: ‚Obacht‘!“, so Löhr. Doch nach wenigen Wochen Beziehung ereigneten sich die ersten eigenartigen Situationen. Löhr erzählt von einem gemeinsamen Festivalbesuch.

Eine Bekannte nahm sie unauffällig zur Seite und sprach sie auf Thomas an. Woher sie ihn kenne? Dass er schräg drauf sei, ihr eine Zeit lang beharrlich gefolgt und auch ausfällig geworden sei. Thomas sah die beiden miteinander reden und verließ einfach ohne ein Wort das Festival – mit Ankes Wohnungsschlüssel in seiner Tasche. Als Anke zu Hause ankam, machte er ihr eine Szene. Sie hätte ihn den ganzen Abend nicht beachtet, sie hätte sich von der blöden Kuh was einreden lassen. Sie sei schuld daran, dass die beiden jetzt Streit hätten. „Da hätten bei mir die Alarmglocken direkt läuten müssen“, wirft sich Löhr rückblickend vor.

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Grenzverletzungen nicht mit Liebesbekundungen verwechseln

Über die kommenden Monate entpuppte sich sein Beziehungsverhalten immer mehr als ein Wechsel aus Nähe und Ablehnung: „Ganz viel lief über Mitleid. Er hat mir immer erzählt, wie sehr er unter mir und meinem Verhalten leidet. Was er alles durchmachen muss und dass ich doch froh sein kann, dass er mich so liebt.“

Als Löhr feststellen musste, dass er auch noch mit anderen Frauen Beziehungen pflegte, zog sie einen ersten Schlussstrich. Mit der Folge, dass Thomas sich bei der Arbeit krankmeldete, anfing zu trinken. Er schickte Bilder von sich, auf denen er weinte. Schrieb, wie sehr er leide und dass er enorm an Gewicht verloren habe. Schuld daran sei allein sie. Im nächsten Augenblick heftete er unzählige Notizzettel voller überbordender Liebesbekundungen in Löhrs Treppenhaus. Auch wenn es ihr heute nur noch schwer nachvollziehbar erscheint, ließ sie sich damals erneut auf ihn ein.

Wenn die Beziehung zerbricht, ist das häufig der Ausgangspunkt für Stalking, überwiegend durch den Mann

Celine Sturm stellt ganz klar fest: „Das sind keine Liebesbekundungen, sondern Grenzverletzungen.“ Stalking werde oft fälschlich romantisiert. Entsprechend wichtig sei es, bei jeder Beziehung die eigene Privatsphäre zu schützen. Dazu zählt sie etwa, dass man geheime Passwörter nicht unbedarft teilt, für das Smartphone eigene Verträge abschließt und keine Apps nutzt, die den Standort permanent durchgeben. Wenn eine Beziehung in die Brüche geht, sollten Menschen sich auch digital trennen. Sturm empfiehlt, dann die Passwörter zu wechseln und gemeinsame Verträge und Accounts aufzulösen.

„Durch die Möglichkeiten, die die digitale Welt bietet, ergeben sich auch mehr Stalking-Möglichkeiten“, so Sturm. Das Nachstellen und Überwachen mit digitalen Mitteln nennt man Cyberstalking. Dabei sammeln Täter Informationen aus den sozialen Netzwerken und installieren Programme (Stalkerware) auf dem Smartphone ihrer Opfer. Dafür braucht es nur einen kurzen Zugriff des Stalkers. Es gibt Apps, die SMS, Chats oder den Standort einer Person übermitteln können. Für das Opfer ist nicht erkennbar, dass es ausspioniert wird.

Stalker wollen die Kontrolle über ihre Opfer behalten

Anke Löhr hatte volles Vertrauen zu Thomas. Sie gab ihm ihren Hausschlüssel, ließ ihn mehr und mehr in ihr Leben. Bei einer gemeinsamen Fernreise schlug er vor, die beiden Reisepässe zu verwahren – zur Sicherheit. Als es vor einem Inlandsflug zwischen beiden zu einer Meinungsverschiedenheit kam, ließ er sie am Terminal stehen, ohne Pass. „Ich denke, das war so ein Kontrollding. So ein Machtding. Er hat es immer hingestellt, als wäre sein Verhalten die angemessene Reaktion auf meine Fehler. Er hat unglaubliche Schuldgefühle in mir ausgelöst“, erklärt Löhr.

Zur endgültigen Trennung kam es, als sie erneut feststellte, dass Thomas sie mit anderen Frauen betrog: „Es hat mein Weltbild total erschüttert, wie jemand so abgebrüht sein kann.“ Unter einem Vorwand holte sie sich den Wohnungsschlüssel zurück. Sie löschte alle Nachrichten und Bilder vom Smartphone, das er ihr geliehen hatte und das sie ihm nach dem Beziehungsaus zurückgeben musste. Danach tauchte sie erst mal ein paar Tage ab.

Die Erinnerungen an diese aufwühlende Zeit sind brüchig. Löhr suchte Zuflucht bei einem alten Freund. Sie blockierte Thomas’ Nummern, reagierte auf keine seiner Mails: „Ich hatte wirklich Angst.“ Und sie hoffte auf einen neuen Lebensabschnitt ohne Thomas.

Entsprechend hart auch der Schock, als der Ex den Umschlag mit ihrer Unterhose an den neuen Arbeitgeber geschickt hatte. Wie sich herausstellte, hatte er auch auf dem gelöschten Smartphone alles wiederherstellen lassen. Immer wieder konfrontierte er sie mit Botschaften, klemmte Liebesbekundungen an den Scheibenwischer ihres Autos, verschickte gefälschte oder aus dem Zusammenhang gerissene Informationen an ihren Freundeskreis. „Er warnte Bekannte davor, dass ich nicht normal sei, und postete auf Social Media Lügen über mich.“ Die Entwicklung stürzte die Frau in eine tiefe Krise.

Durch die Möglichkeiten, die die digitale Welt bietet, ergeben sich auch mehr Stalking-Möglichkeiten

Opfer ziehen sich oft zurück

Opfer von Stalking ziehen sich häufig sozial zurück und können das Ausmaß ihrer Situation schwer greifen. „Die Betroffenen spüren ein ungutes Gefühl, sind jedoch nicht sicher, ob es sich wirklich um Stalking handelt“, weiß Kriminalrätin Daniela Körner. Die Geschäftsführerin der Polizeilichen Kriminalprävention der Länder und des Bundes empfiehlt: „Auch wenn es schwerfällt: Dokumentieren Sie alle Anrufe, Nachrichten oder Briefe. Führen Sie Tagebuch, notieren Sie jeden – auch nur versuchten – Kontakt und die für Sie daraus entstandenen Auswirkungen.“

Außerdem sollten Betroffene ihrem Stalker oder der Stalkerin unmissverständlich klarmachen, dass sie keinen Kontakt mehr möchten – am besten in Gegenwart von Zeuginnen oder Zeugen. Körner: „Lassen Sie sich nicht auf Diskussionen oder ein ‚letztes klärendes Gespräch‘ ein. Bleiben Sie konsequent!“

Zusätzlich sollten Familie, Freunde und Kollegen eingeweiht werden. Der dritte entscheidende Schritt für die Kriminalrätin ist eine Anzeige: „Schnelles und konsequentes Einschreiten der Polizei zeigt gegen Stalkende Wirkung und die Belästigungen hören nach einer Anzeige häufig auf.“

Auch die psychologische Aufarbeitung ist bedeutend. „Für Betroffene ist Stalking oft eine traumatische Erfahrung“, weiß Harald Dreßing. Das Geschehene wirke lange nach, auch wenn es längst vorüber zu sein scheine. Das Perfide, so der Psychiater: „Dass Betroffene nie wissen, ob das Ganze wirklich aufgehört hat. Es schwebt ständig wie ein Damoklesschwert über einem.“

Viele der Menschen, die eine solche Nachstellung erleben mussten, entwickeln psychische Erkrankungen wie Depressionen, Ängste und posttraumatische Belastungsstörungen. Für die Genesung ganz wichtig ist, die eigene Hilflosigkeit zu überwinden. Selbstwirksamkeit nenne man das, so Harald Dreßing: „Der Stalker darf nicht so mächtig sein, dass er das Leben seines Opfers komplett einengt.“ Wichtig dafür ist, sich als betroffener Mensch klarzumachen, dass man nicht schuld ist.

Zurück ins Leben dank psychologischer Betreuung

„Das ‚typische‘ Stalking-Opfer gibt es nicht“, stellt Dreßing klar. Die Schuld liege allein bei den Tätern. Sturm vom Weißen Ring teilt diese Ansicht: „Es ist wichtig, dass Betroffene gegen die Isolation vorgehen und sich ihr Leben zurückerobern.“ Helfen können dabei Beratungsstellen oder eine Psychotherapie.

Anke Löhr konnte sich mit psychologischer Hilfe und der Unterstützung guter Freunde aus ihrem Albtraum befreien. Ihr Chef reagierte sehr verständnisvoll und erteilte dem Ex-Freund Hausverbot. Es dauerte Jahre, bis wirklich nichts mehr von Thomas kam. Sämtliche Zettel und Briefe hat sie vernichtet. Der Gedanke an ihn und die Auseinandersetzung mit dieser Lebensphase sind immer noch schwierig. Löhrs Vertrauen in gesunde Beziehungen war stark zerrüttet. Ihr jetziger Ehemann wusste lange nicht, wo sie überhaupt wohnte. Es brauchte Jahre, bis sie wieder angstfrei vertrauen konnte. Heute führt sie ein glückliches Leben mit ihrem Mann und den gemeinsamen Kindern.


Quellen:

  • Polizeiliche Kriminalprävention der Länder und des Bundes: Stalking, Verfolgt und belästigt. Online: https://www.polizei-beratung.de/... (Abgerufen am 22.04.2024)
  • Polizei Nordrhein-Westfalen: Sicherheit und Gewalt in NRW, Dunkelfeldstudie zeigt: Menschen in NRW fühlen sich größtenteils sicher, vor allem in der eigenen Wohngegend.. Online: https://polizei.nrw/... (Abgerufen am 22.04.2024)
  • Weißer Ring: Evaluierung des Straftatbestands „Stalking“, Stellungnahme. Online: https://weisser-ring.de/... (Abgerufen am 22.04.2024)
  • Dreßing H, Gass P, Schultz K et al.: Häufigkeit und Auswirkungen von Stalking, Eine Replikationsstudie. Ärzteblatt: https://www.aerzteblatt.de/... (Abgerufen am 22.04.2024)
  • Bundeskriminalamt: Polizeiliche Kriminalstatistik 2023. Online: https://www.bka.de/... (Abgerufen am 22.04.2024)
  • Weißer Ring: Stalking, Die unterschätzte Gewalt. Online: https://weisser-ring.de/... (Abgerufen am 22.04.2024)
  • Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben: Gewalt gegen Frauen, Stalking. Online: https://www.hilfetelefon.de/... (Abgerufen am 22.04.2024)