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Immer wieder werden Menschen in Deutschland diskriminiert – wegen ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, einer Behinderung oder aus anderen Gründen. 2023 suchten deswegen fast 11.000 Betroffene Hilfe bei der Antidiskriminierungsstelle des Bundes – ein Rekordhoch[1]. Ferda Ataman, 44, ist die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle des Bundes. Im Interview mit der Apotheken Umschau berichtet sie über Diskriminierung im Gesundheitswesen, welche Folgen diese für Betroffene haben kann und was die Politik tun sollte, um die Situation zu verbessern.

Frau Ataman, haben Sie schon mal Diskriminierung erlebt?

Ferda Ataman: Ich bin als Kind türkischer Gastarbeiter in den 80er-Jahren in Deutschland groß geworden. Natürlich habe ich schon mal Diskriminierung erlebt. Als Beauftragte ist es mir aber wichtig, den Fokus auf diejenigen zu lenken, die aktuell Diskriminierung erleben – auch im Gesundheitswesen.

Wer ist im Gesundheitswesen von Diskriminierung betroffen?

Ataman: Menschen schildern uns zum Beispiel, dass sie wegen ihrer Behinderung oder einer chronischen Krankheit, aus rassistischen Gründen oder aufgrund ihres Geschlechts schlechter behandelt wurden als andere. Zum Beispiel melden sich Frauen bei uns, die auf eine Gehhilfe angewiesen sind und keine barrierefreie gynäkologische Praxis finden. Oder es kann sein, dass Ärztinnen und Ärzte falsche Diagnosen stellen, weil sie sich nur auf die Behinderung ihrer Patientinnen und Patienten konzentrieren und den Menschen und andere Gesundheitsaspekte gar nicht sehen. Das betrifft auch hochgewichtige Menschen: Da erhalten Betroffene Gesundheits- oder Ernährungstipps, die nichts mit der aktuellen Situation zu tun haben. Oder ältere Menschen erleben, dass ihre Depression nicht ernst genommen wird, weil das angeblich normal sei im Alter.

Was ist mit Menschen, die von Rassismus betroffen sind?

Ataman: Schwarze Frauen erzählen uns zum Beispiel, dass ihnen Ärztinnen und Ärzte ohne Anlass HIV-Tests anbieten, weil sie offenbar ein Klischee von Afrika, Sex und Aids im Kopf haben. Bei muslimischen Frauen nehmen sie dagegen an, dass sie kaum Sex haben und beziehen den Aspekt in ihre Diagnosen nicht ein. Das belegt auch eine Studie des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismus-Monitors[2].

Welche Folgen kann Diskriminierung haben?

Ataman: Die wenigen Studien, die es dazu gibt, zeigen: Diskriminierung kann sich negativ auf die Gesundheit auswirken. Menschen können Depressionen oder Angstzustände bekommen. Wer schon mal krank war und damit alleingelassen wurde, weiß, wie schlimm sich das anfühlt. Wenn Diskriminierung dazukommt, ist es noch fataler. Deswegen ist es wichtig, dass Diskriminierung gerade im Bereich Gesundheit ernst genommen wird.

Kommt die Diskriminierung hauptsächlich von Ärztinnen und Ärzten?

Ataman: Nein, das kann aus allen Richtungen kommen, das wissen wir aus unserer Beratung. Beispielsweise erleben Pflegekräfte sexuelle Belästigungen durch Ärztinnen und Ärzte oder auch durch Patientinnen und Patienten. Oder es kommt zu rassistischen Diskriminierungen gegenüber medizinischem Personal – etwa wenn Patientinnen und Patienten zu schwarzen oder asiatischen Pflegekräften sagen: „Von der lasse ich mich nicht pflegen.“

Wie hat sich die Situation in den vergangenen Jahren entwickelt?

Ataman: Die Datenbasis zu Diskriminierungen im Gesundheitswesen ist leider sehr überschaubar. Generell beobachten wir aber, dass Anfragen zu Diskriminierungen zunehmen. Auch die Art der Diskriminierungen verändert sich: Offene Anfeindungen, wie „Leute wie Sie wollen wir hier nicht haben“, nehmen zu.

Woran könnte das liegen?

Ataman: Der Gesundheitsbereich ist – wie jeder andere – von gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen betroffen. Ich führe die offenen Anfeindungen auch auf die hohen Zustimmungswerte für Rechtsextreme zurück: Manche scheinen dadurch zu glauben, menschenverachtende Äußerungen seien nun demokratisch legitimiert. Dass wir mehr Meldungen haben, kann aber auch daran liegen, dass mehr Menschen über ihre Rechte informiert sind und sich trauen, sich an Beratungsstellen zu wenden. Leider finden sie hier nicht immer Hilfe.

Sie spielen auf Ihre kürzlich veröffentlichte Studie „Diagnose Diskriminierung[3]“ an. Hier wurde untersucht, wie es um die Qualität von Beratungsstellen bei Diskriminierung im Gesundheitswesen steht. Was sind die Haupterkenntnisse?

Ataman: Viele Menschen wehren sich nicht gegen diskriminierende Erfahrungen. Das liegt daran, dass sie darauf angewiesen sind, medizinisch behandelt zu werden. Sie können den Arzt oder die Ärztin nicht wechseln, weil sie zum Beispiel in einer Region leben, wo es kaum Praxen gibt. Vielleicht haben sie monatelang auf den Termin in der Fachpraxis gewartet. Oder sie sind im Krankenhaus und müssen darauf vertrauen, dass sie die beste und fairste Behandlung bekommen.

Wenn sie sich aber doch überwinden und sich zum Beispiel bei einer Beschwerdestelle melden, erhalten viele gar keine Rückmeldung. Eigentlich gibt es zahlreiche Anlauf- und Beschwerdestellen im Gesundheitswesen, aber nur wenige sind qualifiziert und können bei Diskriminierung helfen. Das Problem ist: Oft wissen Beratungsstellen gar nicht, wie die Rechtslage ist und was sie Betroffenen raten können.

Was bedeutet das für Betroffene?

Ataman: Wer Diskriminierung erlebt und keine Hilfe findet, überlegt sich zweimal, ob er oder sie bei der nächsten Krankheit in die Praxis geht. Das kann sich fatal auf die Gesundheit auswirken.

Was muss sich ändern?

Ataman: Betroffene wissen oft nicht, wo sie sich bei Diskriminierung melden können: bei Gesundheitsämtern, Krankenkassen, Patient*innenbeauftragten? Deshalb bräuchte es idealerweise zentrale Anlaufstellen – sowohl für einzelne Bundesländer als auch bundesweit. Damit Menschen nicht so lange suchen müssen, bis sie Hilfe finden. Und die bereits existierenden Anlauf- und Beschwerdestellen müssen qualifiziert werden, damit sie mit Fällen von Diskriminierung umgehen können.

Ist denn die Antidiskriminierungsstelle nicht so eine zentrale Anlaufstelle?

Ataman: Wir können bei Diskriminierungserfahrungen generell eine rechtliche Einschätzung geben. Aber wir sind nicht auf Gesundheitsfragen spezialisiert. Dafür brauchen wir schon eine eigene zentrale Kompetenzstelle in Deutschland. Sie müsste per Telefon oder Mail einfach erreichbar sein und einen Überblick haben über alle Angebote vor Ort. Und was es besonders dringend bräuchte: Eine Anpassung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG), damit die Menschen auch im Gesundheitsbereich rechtlich besser geschützt werden.

Wie meinen Sie das?

Ataman: Aktuell gilt der Diskriminierungsschutz laut AGG für den Arbeitsmarkt und den Zugang zu Dienstleistungen und Gütern. Ob die Gesundheitsversorgung darunterfällt, ist eine offene Frage in Deutschland. Es muss rechtlich klargestellt werden, dass der Diskriminierungsschutz auch den Gesundheitsbereich umfasst.

Was würde es ändern, wenn das AGG entsprechend angepasst werden würde?

Ataman: Es würde gesetzliche Klarheit schaffen und wir oder andere Beratungsstellen könnten Menschen eine klare rechtliche Einschätzung geben. Auch Dienstleistungsanbietende wie Krankenhäuser, Apotheken oder Praxen hätten mehr Rechtssicherheit und würden davon profitieren.

Hat die Politik Ihre Forderungen im Blick?

Ataman: Der Gesundheitsminister hat die Studie „Diagnose Diskriminierung“ entgegengenommen und betont, dass es ein wichtiges Thema ist. Meines Wissens gibt es bisher aber keine Strategie gegen Diskriminierung im Gesundheitsbereich.

Warum?

Ataman: Die ärztliche Berufsordnung[4] und der Wunsch, Menschen zu helfen, prägen diese Branche besonders. Deshalb glauben viele, dass im systemrelevanten Gesundheitsbereich keine Diskriminierungen stattfinden. Aber überall, wo Menschen zusammenkommen, kann es ungerechtfertigte Ungleichbehandlung geben. Menschen machen diskriminierende Erfahrungen auch in Praxen, Apotheken, Krankenhäusern oder Pflegeeinrichtungen. Wir müssen das Thema enttabuisieren und angehen.

Was würden Sie Menschen raten – egal ob Patientinnen, Patienten oder Fachpersonal – was Sie im Falle von Diskriminierung tun sollten?

Ataman: Patientinnen und Patienten können sich an den Patientenbeauftragten der Bundesregierung, die Ärztekammern oder an uns wenden. Eine praktische Sache, die Krankenhäuser oder Praxen jetzt schon tun könnten: Infomaterial aushängen, wer bei Diskriminierung helfen kann. Das ist ein professioneller Umgang mit dem Thema und wäre für viele Menschen hilfreich.

Beim Fachpersonal sind Arbeitgebende in der Pflicht, ihr Personal vor Diskriminierung zu schützen und eine Beschwerdestelle für Fälle von Diskriminierung und Belästigung anzubieten. Und ich würde Betroffenen grundsätzlich raten, die Diskriminierung zu melden. Denn das Vertrauen in ein funktionierendes System basiert auch maßgeblich auf dem Vertrauen, ohne Diskriminierung behandelt zu werden. Das ist ganz entscheidend für die Demokratie, die Sicherheit und den Zusammenhalt in einer Gesellschaft.


Quellen: