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„Vielfältig” ist Deutschlands erster ambulanter Pflegedienst, der explizit die Themen Sexualität und geschlechtliche Vielfalt mitdenken will. Die Mitarbeitenden des Bremer Unternehmens integrieren Gespräche über Intimität in den Pflegealltag oder bieten auf Wunsch auch Beratungsgespräche an. Ein Gespräch mit Co-Gründerin Hannah Burgmeier.

Sexualität spielt auch im Alter eine Rolle. Was hat ein Pflegedienst damit zu tun?

Hannah Burgmeier: Ich bin gelernte Gesundheits- und Kinderkrankenpflegerin, meine Frau gelernte Altenpflegerin. Vor allem bei älteren Pflegebedürftigen hörten wir von Sexualität immer nur im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen oder sexualisierter Gewalt. Dann gibt es in der Pflege auch immer mal Situationen, in denen Bedürfnisse falsch interpretiert und daher als übergriffig empfunden werden können. Das Thema Sexualität ergab sich also immer nur in negativen Kontexten. Das wollten wir verändern, denn Sexualität trägt zum Wohlbefinden und zur Gesundheit bei.

Pflege ist ja meist etwas körperliches, anpackendes. Wann ist da Platz für ein integriertes und sensibles Gespräch?

„Vielfältig“-Co-Gründerin Hannah Burgmeier möchte dazu beitragen, dass mehr ambulante Pflegeangebote Themen wie Sexualität berücksichtigen.

„Vielfältig“-Co-Gründerin Hannah Burgmeier möchte dazu beitragen, dass mehr ambulante Pflegeangebote Themen wie Sexualität berücksichtigen.

Burgmeier: Primär erfüllen wir und unsere Mitarbeitenden immer erstmal unseren Versorgungsauftrag. Dabei entstehen automatisch auch intime Momente – etwa bei einer Ganzkörperpflege. Viele der älteren Pflegebedürftigen sind seit langer Zeit nicht mehr berührt worden. Darum kann es sein, dass sie Gefallen an der Berührung finden – etwa weil sich der Waschlappen auf der Haut wie ein Streicheln anfühlt. Wir wollen ja auch so eine Wohlfühlatmosphäre schaffen und sagen den Patientinnen und Patienten zum Beispiel, dass das ganz normal ist, wenn ihnen das gefällt. Oder wir fragen Sie: „Wie leben Sie aktuell Sexualität?" oder „Was fehlt Ihnen?“.

Reagieren alle Patientinnen und Patienten positiv auf diese Angebote?

Burgmeier: Oft bekommen wir auch Patientinnen und Patienten aus Kliniken zur Nachversorgung zugewiesen, die gar nicht wissen, was unser Schwerpunkt ist. In erster Linie sind wir ja auch ein ambulanter Pflegedienst. Wir sagen immer: „Sie müssen da nicht drüber sprechen“. Wenn es den Leuten zu viel ist, bieten wir an, später oder auf Wunsch gar nicht auf das Thema Sexualität zurückzukommen. Ganz oft sagen unsere Patientinnen und Patienten, sie finden toll, dass wir das anbieten, dass sie aber keinen Bedarf haben. Oft kommt das aber später.

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Wie ergibt sich so ein Gespräch dann?

Burgmeier: Mit einem Patienten kam ich über die Homosexualität seiner Tochter ins Gespräch, die ihm Sorgen bereitete. Er reflektierte dann seine eigene Sexualität, dass ja in seinem Alter nichts mehr gehe. So kommt man im täglichen Tun ins Gespräch. Manchmal öffnen sich Türen zum Gespräch, wenn ich zum Beispiel erwähne, dass morgen meine Frau kommt. Dann kommen hin und wieder Nachfragen, warum ich mit einer Frau verheiratet bin.

Für solche Gespräche braucht es sicher auch etwas Ruhe. Könnten das auch andere Pflegedienste in ihren hektischen Alltag integrieren?

Burgmeier: Ich denke schon. Dafür muss ich als Pflegekraft aber offen für das Thema und gesprächsbereit sein. Die Haltung ist ausschlaggebend. Bin ich dazu bereit, über die Sexualität meines Gegenübers zu sprechen? Wenn die Zeit knapp ist, kann man ja sagen: „Mensch, total spannend, lassen Sie uns da morgen wieder anknüpfen.“

Altsein bringt also auch eine gewisse Selbstsicherheit mit sich.

Sie bieten auch Sexualberatungsstunden an. Was sind da die häufigsten Themen?

Burgmeier: Es geht viel um Körperbilder und Sexualität beziehungsweise Lust. Die verändern sich. Viele fragen etwa, wie sie ihre Lust leben können, obwohl sie keinen penetrativen Sex oder keine Erektion mehr haben können. Wir arbeiten dann am Begriff der Sexualität, erzählen zum Beispiel, dass auch Massagen, Händchen halten oder ein langes in die Augen schauen dazugehören können.

Wie kann Sexualität bei Paaren funktionieren, in denen eine Person, die andere pflegt?

Burgmeier: Pflege bringt eine gewisse Mechanik mit sich. Das passt nicht unbedingt mit Intimität zusammen. Man sollte sich dafür bewusst einen anderen Moment suchen, bei dem es sich nicht um eine Pflegesituation handelt. Da kann man sich Zeit nehmen für Sexualität. Man sollte da die Rollen trennen: Paar- und Pflegeverhältnis.

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Auf Ihrer Website sprechen Sie vom „sexuellen Potenzial“ des Alters. Welches ist das?

Burgmeier: Das sind viele! Für das Alter gibt es weniger Ideale, denen wir entsprechen wollen – etwa was Schönheit oder Schnelligkeit betrifft. Man hat ja schon eine ganze Lebensspanne Sexualität gelebt. Darum weiß man im Alter eher, was einem gefällt und was nicht. Altsein bringt also auch eine gewisse Selbstsicherheit mit sich.

„Vielfältig“ ist der erste Pflegedienst, der Sexualität explizit thematisiert. Wie stellen Sie sich die Zukunft der Pflege dahingehend vor?

Burgmeier: Betriebswirtschaftlich ist das im klassischen Pflegedienst nicht immer drin. Oder die Motivation ist gering, denn es muss eine gewisse Anzahl an Patientinnen und Patienten aufgenommen werden, damit die Arbeit rentabel ist. Auch wir kriegen das nicht refinanziert, aber bei uns ist das eine Unternehmensentscheidung, das zu tun und dafür womöglich auf Umsätze zu verzichten. Grundsätzlich kommen wir aber immer mehr hin zu bedürfnisorientierter Pflege. Auch die Boomer-Generation, die jetzt altert, wird andere Ansprüche haben, die wollen was erleben, die wollen sicher auch mehr Sexualität erleben.

Wie könnten andere Pflegedienste da hinkommen?

Burgmeier: Es braucht ein Umdenken von jeder Einrichtung. Sexualität sollte als Ressource betrachtet werden. Zwar ist „Vielfältig” als Pflegedienst nur in Bremen tätig, aber wir geben bundesweit Workshops im Gesundheitswesen, weil wir natürlich andere mit unserer Philosophie anstecken wollen. Aber auch als Angehörige oder Angehöriger einer pflegebedürftigen Person kann man zum Beispiel in der Einrichtung fragen: „Wie sieht das sexualpädagogische Konzept der Einrichtung aus? Wie wird hier Sexualität als Ressource betrachtet?”. Wenn man Fragen stellt, auf die es keine Antworten gibt, suchen die Einrichtungen Antworten. Das zu fragen, erfordert etwas Mut, aber es geht ja schließlich auch um das Leben einer geliebten Person.