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Wenn man im Internet nach „Psyche + Übergewicht“ sucht, findet man sofort Tricks, die beim Abnehmen helfen sollen. Kleinere Teller bevorzugen, bauchige Gläser meiden. Bringt das was?

(Lacht.) Ja, sowas ist sehr beliebt. Man nennt es Stimulus-Kontrolle, also die Kontrolle der äußeren Reize, die einen teils unbewusst zum Essen verführen. Das ist sicher sinnvoll. Genauso, wie wenn man sagt: Ich wähle einen neuen Weg zur Arbeit, wo ich an keiner Bäckerei vorbeikomme. Leider ist die nächste Bäckerei nie weit. All die Verführungen um uns herum zu beherrschen, das schafft vielleicht einer unter tausend.

Diese Verführungen wirken sogar, wenn wir keinen Hunger haben. Wenn ich frustriert bin, reiß ich schon mal eine Tafel Schokolade auf – und weg ist sie.

Weil Essen unser Belohnungssystem anspricht, selbst wenn wir es nur sehen. Das kann man sehr gut nachweisen, indem man Menschen in einen Hirn-Scanner, einen funktionellen Magnetresonanztomografen, legt. Dann zeigt man ihnen zum Beispiel Milchshakes und sieht: Auch wenn sie satt sind, leuchten die Bereich, in denen sich das Belohnungssystem befindet. Das ist etwas Biologisches und war früher ein Vorteil. Denn Nahrung war fast immer knapp. Wenn mal genug da war, musste der Mensch über sein Sattheitsgefühl wegessen, um Fett zu speichern.

Das Belohnungssystem spielt ja auch bei Suchterkrankungen eine zentrale Rolle. Kann Essen zur Sucht werden?

Zugegeben, ein paar Ähnlichkeiten zwischen Suchtverhalten und Essen gibt es. Was aber nicht erstaunlich ist und auch nicht krankhaft. Essen muss sich belohnend anfühlen, genauso wie Sexualität oder Brutpflege. Denn es sichert unser Überleben. Eine Nahrungsmittelsucht, etwa auf Zucker, ist beim Menschen aber nicht nachgewiesen, auch wenn manche Forscherinnen und Forscher das anders sehen.

Wenn ich frustriert bin, beiße ich dennoch lieber in einen Krapfen als in eine Karotte.

Und das ist leicht erklärbar. Alles, was süß und fett ist, hat viele Kalorien. Und darauf kam es früher an. Deshalb fühlt es sich belohnender an, Zucker zu essen als ein Salatblatt. Essen stillt auch nicht nur den Hunger, es hat viele Funktionen. Es wirkt wohltuend, beruhigend. Gemeinsam zu essen, ist auch ein starker sozialer Kitt. Da ständig zu widerstehen, ist hart. Vor allem in dem Überfluss, in dem wir heute leben.

Sie sagen: Etwas zu viel zu essen, ist biologisch programmiert. Doch kann hinter Adipositas auch eine Essstörung stecken?

Das ist gar nicht so selten, bei etwa drei bis fünf Prozent der Menschen mit Adipositas. Es ist dann quasi immer die Binge-Eating-Störung. Charakteristisch dafür sind Essanfälle, ohne dass man sich danach erbricht oder ähnliches. Dahinter stecken meist unbewältigte Affekte. Die Betroffenen haben die Essanfälle für sich entdeckt, um die eigenen Emotionen zu regulieren. Erfolgreich behandeln lässt sich das nur mit Psychotherapie. Man muss herausfinden: Was führt zu den starken Emotionen, die man dann nicht anders beherrschen kann? Daran muss man dann arbeiten.

Die Psyche mischt beim Essen ja aber auch bei Gesunden mit. Inwiefern nutzt auch die Nahrungsmittelindustrie psychische Tricks, um uns zum Essen zu verführen?

Auf viele Weisen. Es fängt mit der Werbung und Verpackung an, den bunten Süßigkeiten, bei denen man an der Kasse warten muss. Viele Getränke, Jogurts, selbst Wurst und Käse enthalten als Geschmacksverstärker Zucker. Unser Belohnungssystem springt an und wir essen mehr davon, als wir wollen. Den Zucker in den Nahrungsmitteln zu reduzieren, ungesunde Nahrung mit Kinderoptik zu verbieten, wären sinnvolle Schritte. Doch solche staatlichen Maßnahmen sind in Deutschland nicht so leicht umzusetzen. Dabei wäre Prävention das Allerwichtigste. Denn wenn man mal das Pech hat, adipös zu sein, ist es wirklich schwer, das wieder loszuwerden.

Dennoch gibt es Übergewichtige, die es schaffen.

Und ich bin davon immer wieder beeindruckt. Denn es bedeutet, dass sie nie mehr anders essen dürfen, als zu dem Zeitpunkt, als sie ihr Minimumgewicht hatten. Und das ist schwierig. Wenn man abnimmt, tut der Körper wirklich alles, um das verlorene Gewicht wieder zu bekommen. So nimmt auch die Belohnungssensitivität zu. Man reagiert also viel stärker auf äußere Reize. Zu sagen: „Reiß dich halt zusammen!“ – das bringt nichts. Sie müssen sich überlegen: Etwa 20 Prozent der Menschen sind hierzulande adipös. Und es sind sicher nicht 20 Prozent willensschwach.

Wie schafft man es trotzdem?

Man muss versuchen, individuelle Strategien zu finden, um problematisches Essverhalten zu erkennen und zu verändern. Dauerhaft. Neue Gewohnheiten müssen etabliert werden. Doch sein Verhalten zu verändern, ist anstrengend, mühsam, zweitaufwändig. Viele brauchen dabei eine langfristige Unterstützung, was ich gut verstehen kann. Ich bin da nicht anders, zum Beispiel beim Zahnarzt: Nach einem Besuch, reinige ich meine Zahnzwischenräume perfekt. Dann schläft das wieder ein. Würde ich alle zwei Wochen zum Zahnarzt gehen, der mich kontrolliert, würde ich es wohl beibehalten.

Doch selbst mit Betreuung nehmen viele wieder zu.

Und das ist normal, Rückfälle gehören dazu. Man darf sich hier nicht zu sehr unter Druck setzen und denken: Ich habe versagt, ich schaffe es einfach nicht. Wichtig ist dann, es immer wieder neu zu probieren. Nicht erst, wenn man wieder 20 Kilo zugenommen hat, sondern schon am Anfang, wenn man merkt: Hoppla, das Gewicht geht wieder hoch.

Manchmal hat man nach dem Abnehmen fast das Gefühl, als würde die Umgebung nur darauf lauern, bis man wieder zunimmt. Welche Rolle spielt das gesellschaftliche Stigma, das auf Menschen mit hohem Gewicht lastet?

Leider wirkt es sich oft sehr negativ aus, dazu gibt es viele Untersuchungen. Wir sprechen hier auch von Selbstinvalidisierung. Wenn man immer gesagt bekommt, du bist willensschwach, glaubt man es irgendwann. Man nimmt den Menschen damit im Kopf die Möglichkeit zu denken: „Wenn ich es wollte, dann könnte ich etwas ändern.“ Wenn sie dann abnehmen – und wieder zu, erzeugt das Schuld- und Schamgefühle. Das Selbstwertgefühl leidet enorm. Wer ohnehin dazu neigt, in Stressphasen mehr zu essen, wird durch diesen zusätzlichen Stress noch mehr essen.

Die Bewegung des Fettaktivismus dreht im Internet den Spieß um und sagt: Dicksein-Sein ist völlig okay. Ungesund ist allein die Diskriminierung. Ist das hilfreich?

Eher nicht. Auch wenn es eine verständliche Gegenreaktion ist. Gern ist in diesem Zusammenhang ja auch von „Body Positivity“, die Rede, einer positiven Einstellung auch zum dicken Körper. Mich hat der Begriff immer gestört. Viel besser gefällt mir „Body Neutrality“. Dass man seinem eigenen Körper neutral gegenübersteht und seinen Selbstwert nicht davon

Prof. Dr. Martina de Zwaan ist Psychotherapeutin und ehemalige Präsidentin der Deutschen Adipositas-Gesellschaft.