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Als Thomas Gottschalk im vergangenen Jahr seine letzte Ausgabe von „Wetten, dass..?“ moderierte, schwappte eine Welle der Nostalgie durch die deutschen Wohnzimmer. Zumindest hatte man den Eindruck, wenn man einen Blick in die sozialen Netzwerke warf: Dort erinnerten sich viele an die Samstagabende in ihrer Kindheit, als sie, in einen weichen Bademantel gehüllt, vor dem Fernseher saßen und bei den Wetten mitfieberten. Schön war das, so friedlich und gemütlich. So ganz anders als heute. Oder?

Nostalgie meint ursprünglich starkes Heimweh

„Die Sendung ist ein gutes Beispiel dafür, wie unterschiedlich Menschen reagieren können“, sagt Dr. Tobias Becker. Der Historiker forscht an der Freien Universität Berlin unter anderem zur Nostalgie. Denn während die einen in den alten Zeiten schwelgen, finden andere die Erinnerung in erster Linie schrecklich. Doch warum denken manche überhaupt an diese vermeintlich heile Welt zurück? Zumal nostalgische Anwandlungen ja gerne belächelt oder sogar negativ bewertet werden.

„Als ich begonnen habe, mich mit dem Thema zu beschäftigen, habe ich schnell festgestellt, dass im Grunde jede und jeder etwas anderes unter Nostalgie versteht“, sagt Becker. Das liegt eventuell auch an der Geschichte des Begriffs. Denn der stammt aus dem 17. Jahrhundert und beschrieb ursprünglich starkes Heimweh – was damals als schwerwiegende Gemütserkrankung galt. Erst etwa seit den 1970er-Jahren ist mit Nostalgie oft ein sentimentales Zurücksehnen nach einem angeblich besseren Früher gemeint.

Nostalgie als Gegenbegriff zu Fortschritt

In den 1970ern geriet die Vorstellung, dass in Zukunft alles besser wird und man die Vergangenheit deshalb schnellstmöglich überwinden muss, ins Wanken. Zum einen, weil sich die Hoffnungen auf Fortschritt nicht erfüllten. Zum anderen, weil Ereignisse wie die Wirtschafts- und Ölkrise dazwischenkamen. „Seither gilt Nostalgie oft als Gegenbegriff zu Fortschritt“, sagt der Historiker.

Auch werde der Begriff oft abwertend genutzt. Man werfe anderen Personen damit vor, in der Vergangenheit festzustecken und sich dadurch der Gegenwart und Zukunft zu verweigern. Dieser Vorwurf sei so nicht haltbar. „Wir alle leben ein Stück weit in verschiedenen Zeiten. Es ist ganz normal, dass wir auch immer an vergangene Erlebnisse zurückdenken und versuchen, uns dadurch die Gegenwart zu erklären. Gleichzeitig verändert sich die Vergangenheit auch unter neuen Eindrücken“, sagt Becker. Für ihn sei Nostalgie ein Bestandteil unseres Gefühlshaushaltes und damit erst einmal neutral zu bewerten.

Auch Prof. Dr. Katharina Scherke, Soziologin an der Universität Graz, hält es für problematisch, wenn Nostalgie zu einem leeren Begriff würde, der einfach alles umfasst, was mit der Vergangenheit zu tun hat. „Das führt von der Frage weg, warum Nostalgie eigentlich so weit verbreitet ist und welche Rolle sie spielt“, sagt die Expertin. Für sie ist Nostalgie eine Emotion, die durch eine bittersüße Komponente gekennzeichnet ist. Da sei einerseits ein Bedauern, dass eine bestimmte Zeit vorbei ist, aber gleichzeitig auch Dankbarkeit, dass man sie erlebt hat.

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Nostalgie kann im Umgang mit der Gegenwart helfen

Jüngere Arbeiten zeigen, dass Nostalgie auch positive Effekte haben kann. So hatte der Soziologe Fred Davis bereits in den 1970ern darauf hingewiesen, dass positive Erinnerungen an früher dazu beitragen können, besser mit der Gegenwart zurechtzukommen.

„Nostalgische Erinnerungen haben oft mit anderen Menschen zu tun“, sagt Scherke. Man denkt an gemeinsame Urlaube, Feste oder die bereits erwähnten Abende vor dem Fernseher zurück und schafft so ein Gefühl der Verbundenheit. Ist man gerade von Familie, Freunden oder auch Kolleginnen und Kollegen getrennt, zum Beispiel durch einen Umzug oder Jobwechsel, kann es Kraft schenken, sich an gemeinsame Erlebnisse zurückzuerinnern. Das lindert das Gefühl des Alleinseins. Deshalb neigen viele gerade in Umbruch- oder Krisenzeiten dazu, öfter in Erinnerungen zu schwelgen.

Fachleute unterscheiden zwischen restaurativer Nostalgie und reflexiver Nostalgie. Letztere sagt aus, dass Menschen sehr wohl wissen, dass die Vergangenheit vorbei ist, und sich trotzdem gerne an die eine oder andere Episode zurückerinnern. Die restaurative Nostalgie hingegen beschreibt vor allem diejenigen, die tatsächlich in der Vergangenheit stecken geblieben sind und sie am liebsten wiederholen würden. Laut Katharina Scherke ist das vor allem bei rückwärtsgewandter Politik zu finden. Zum Beispiel bei Parteien, die an alten Rollenverhältnissen festhalten wollen. „Wenn Parteien hergehen und versuchen, ihre rückwärtsgewandte Politik auf nostalgischen Gefühlen aufzubauen, sehe ich Gefahren im Umgang mit der Nostalgie“, sagt Scherke.

Nostalgie wird auch im Marketing genutzt

Auch Marketingabteilungen versuchen gerne, mit ihren Produkten Erinnerungen an die guten alten Zeiten zu wecken. Das kann der Kühlschrank sein, der innen die neueste Technik enthält und außen im Retrodesign daherkommt. Oder Autos, deren Form an ein Vorgängermodell erinnert. „Der Inhalt hat sich weiterentwickelt, aber man versucht trotzdem, an frühere Erfolgsgeschichten anzuknüpfen und den Wiedererkennungseffekt zu nutzen“, sagt Katharina Scherke. Gleichzeitig werde auch das nostalgische Gefühl ausgenutzt, das bei denen aufkommt, die ähnliche Produkte früher schon genutzt haben oder generell Erinnerungen damit verbinden.

Im alltäglichen Umgang mit Nostalgie sei den meisten Menschen aber sehr wohl bewusst, dass früher eben nicht alles besser war, weiß die Soziologin. Nur weil sich jemand gerne an den Apfelkuchen der Oma zurückerinnert, heißt das noch lange nicht, dass er oder sie wieder Kind sein will. Und manchmal gebe es ja doch das eine oder andere, das früher tatsächlich besser war, sagt Tobias Becker. Zum Beispiel niedrigere Mieten, mehr Jobsicherheit oder eine bessere soziale Absicherung. Nutzt man das als Motivation, den Jetzt-Zustand positiv zu verändern, könnte Nostalgie sogar etwas sein, das man auf den ersten Blick gar nicht vermuten würde: eine Tür zu einer besseren Zukunft.


Quellen:

  • Becker T, Stach S: Nostalgie , Historische Annäherungen an ein modernes Unbehagen. Zeithistorische Forschungen: https://zeithistorische-forschungen.de/... (Abgerufen am 29.02.2024)
  • Universität Mannheim: „Ach, weißt du noch – damals …?“. Online: https://www.uni-mannheim.de/... (Abgerufen am 29.02.2024)
  • Zhou X, Sedikides C, Mo T et al. : The Restorative Power of Nostalgia: Thwarting Loneliness by Raising Happiness During the COVID-19 Pandemic. Sage Journals: https://journals.sagepub.com/... (Abgerufen am 29.02.2024)
  • Prof. Dr. Katharina Scherke: Wie zukunftsrelevant ist Nostalgie?. In: (no) future 01.01.2021, 114: 61