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„Zu spüren, dass wir nicht allein sind, war unheimlich ermutigend“

Ulrich van Bebber, Vorsitzender der Lebenshilfe im Kreis Ahrweiler:

„Das Hochwasser vor zwei Jahren kam wie eine Sintflut über uns. Wir hätten nie gedacht, dass das Wasser das Wohnheim erreicht. Es war nicht einmal vom sogenannten Jahrhunderthochwasser 2016 betroffen. Aber in dieser Nacht wurde das Erdgeschoss komplett überflutet. Zwölf von 38 Bewohnerinnen und Bewohnern kamen dabei ums Leben. Ich erinnere mich gut an das Chaos, die Verzweiflung und die Trauer in den Wochen danach. Viele Leute und Mitarbeitende waren traumatisiert. Wir sind eine kleine Einrichtung, wie eine Familie.

Wir mussten schnell handeln: Einige Bewohner kamen bei ihren Familien unter, die meisten brauchten eine neue Bleibe. In einem leer stehenden Hotel auf der anderen Rheinseite richteten wir eine Notunterkunft ein. Dann galt es, Möbel, Kleidung und Hilfsgüter zu organisieren. Freiwillige unterstützten uns enorm. Menschen halfen ganz praktisch beim Aufräumen und Umziehen oder mit Geldspenden. Zu spüren, dass wir nicht allein sind, war unglaublich ermutigend. Bald war aber klar: Wir können nicht bleiben, weil die Räume nicht barrierefrei sind. Schließlich fanden wir zwei Einrichtungen in Remagen und Mendig. Das war eine schwierige Phase, auch weil wir nicht wussten, wie es mit dem Lebenshilfehaus in Sinzig weitergeht.

Für unsere Bewohner war es ein Zuhause, ein Ort der Freude und des Lebens. Alle waren gut in die Stadt integriert. Deshalb wollten wir, dass sie nach Sinzig zurückkehren und hier inklusiv leben können. Im Frühling haben wir endlich ein geeignetes Grundstück gefunden. Leider ist die Finanzierung noch nicht gesichert. Wir hoffen, dass uns das Land unterstützt.

Wir versuchen, nach vorn zu schauen und dem Team und den Bewohnerinnen und Bewohnern Mut zu machen. Mit dem neuen Grundstück haben wir jetzt eine Perspektive. Und wir hoffen, dass das neue Lebenshilfehaus in zwei bis drei Jahren fertig ist.“

„Die Katastrophe hat uns zusammengeschweißt“

Linda Reeves, Apothekerin und Inhaberin der Ahrtor-Apotheke in Ahrweiler:

„Meine Apotheke liegt am größten Stadttor in Ahrweiler, direkt an der Ahr. Als vor zwei Jahren das Hochwasser alles überflutete, war meine Apotheke eines der ersten Geschäfte in der Altstadt, die es erwischt hat. Das Wasser drückte die vorderen Ladenfenster ein, kam von unten und hat alle Regale und Tische durcheinander­gewirbelt. Bis auf einen alten Apothekerschrank und ein paar historische Apothekergefäße hat die Flut alles zerstört.

Für mich war jedoch schnell klar, dass ich die Apotheke wieder aufbaue. Ich habe dabei an meine Mitarbeiterinnen gedacht und an meine Kunden. Ich trage Verantwortung für die Menschen hier. In den ersten Tagen habe ich vor Ort praktische Hilfe geleistet und danach angefangen, alles für Apothekendienste zu organisieren. Nach ein paar Tagen konnte ich den Notbetrieb aufnehmen. Mitarbeiterinnen, die von der Flut privat betroffen waren, habe ich freigestellt. Alle anderen haben mit angepackt.

Zunächst habe ich Bestellungen aus meinem Wohnzimmer in Köln bearbeitet, unterstützt von einem befreundeten Apotheker dort. Ich habe die Medikamente zu einem Stützpunkt gebracht, der Botendienst hat sie abgeholt und zu den Menschen gefahren. Es hatte ja niemand mehr seine Medikamente und auch die Infrastruktur war lahmgelegt. Nach drei Wochen konnten wir in Übergangsräume ziehen. Dort gab es eine gute Stromversorgung, sodass wir sogar einen Kom­mis­sio­nier­apparat aufstellen konnten. Mein Schreiner baute die Glastür aus und eine Holztür mit Notdienstklappe ein. Auf dem Parkplatz habe ich einen Container mit Warenlager und Beratungsraum für Corona-Tests eingerichtet.

Nach einem Dreivierteljahr war die Ahrtor-Apotheke komplett saniert, auch dank meines Schreiners und einer Baufirma, die sich nach einem Hilferuf über Facebook gemeldet hatte. Wir gehörten zu den ersten Geschäften in der Altstadt, die wieder bezogen werden konnten. Auch jetzt, zwei Jahre nach der Flut, stehen immer noch viele Läden leer und wirken verwahrlost.

Die Flutnacht hat aber nicht nur materielle Schäden hinterlassen. Die Menschen hat das psychisch sehr mitgenommen. Ich merke vor allem bei den älteren Kunden, dass ihre Seele noch nicht verkraftet hat, was hier passiert ist. Der Redebedarf ist sehr groß. Mein Team ist meine zweite Familie und ich spüre, dass uns die Katastrophe einander noch näher gebracht hat.“

„Die Familien brauchten viel emotionale Begleitung“

Nina Wortha und Marion Sermann hatten in Dernau eine Hebammenpraxis:

Nina: „An jenem Mittwochnachmittag war klar, dass es viel regnen würde, aber die Ausmaße hat niemand vorhergesehen. Am Abend habe ich mit meinem Mann noch Sandsäcke zur Praxis gefahren. Die Räume waren im Hochparterre, wir dachten, sie seien geschützt. Einen Tag später war alles zerstört und ich bin durch kniehohen Schlamm gewatet. Ich habe Freunde und Familie mobilisiert, um aufzuräumen. Es hat dann fast einen Tag gedauert, bis ich Kontakt zu Marion hatte – ich war so erleichtert.“

Marion: „Die Flut hat mich auch privat betroffen, zum Glück wurde nur der Keller beschädigt. In die Praxis bin ich erst nach einer Woche gekommen. Ich wusste aber, wie es aussieht, weil Nina mir zwischendurch Bilder geschickt hat von der Menschenkette, die Eimer voller Schlamm hinausschleppte. Als ich dann durch die leeren Räume ging, konnte ich nur weinen. Ich war traurig und gleichzeitig froh, Nina wiederzusehen.“

Nina: „Als Hebammen können wir zum Glück mobil arbeiten – und genau das haben wir dann erst mal getan. Nach der Flutnacht haben wir alle Familien kontaktiert und gefragt, wie es ihnen geht und was sie benötigen. Vielen fehlte es an ganz banalen Dingen: Windeln, Bodys, Strampler. Die Hilfsbereitschaft war wahnsinnig groß. Aus allen Ecken Deutschlands haben Menschen Spenden geschickt. Die kamen zu mir nach Hause und wir haben sie verteilt. Aus Norddeutschland kamen Hebammen und haben uns mit Arbeitsutensilien unterstützt, andere Kolleginnen und Familien haben Tragen, Tragetücher und Bedarfsartikel für die Familien gespendet. Ich hatte immer Windeln, Feuchttücher und Babykleidung im Auto, um die zu verteilen. Die Familien brauchten viel emotionale Begleitung.“

Marion: „Mit der Praxis hatten wir uns einen Traum erfüllt. Dort haben wir Kurse gegeben, sie war eine Anlaufstelle für Schwangere und Familien. Wir wollten eigentlich wieder zurück, aber es ging einfach nicht vorwärts mit den Räumen. Wir haben anderthalb Jahre ausschließlich Hausbesuche gemacht. Das Arbeiten ohne eigene Praxis und die zusätzliche Organisation haben geschlaucht. Jetzt, zwei Jahre später, scheint vieles seinen normalen Gang zu gehen. Wir haben uns mit anderen Hebammen zusammengeschlossen und können endlich wieder Geburtsvorbereitungskurse vor Ort anbieten. In den Gesprächen mit den Familien merke ich, dass die Flut immer noch Thema ist. Auch bei mir kommt viel hoch, wenn ich darüber spreche.“

„Die Menschen müssen begreifen, wie ernst es mit der Klimakrise ist“

Dr. Elke Vespo ist Chefärztin des ambulanten neurologischen Rehazentrums NTRA in Bad Neuenahr:

„‚Ich stehe im Rehazentrum. Alles ist kaputt.‘ Der Anruf meiner Kollegin erreichte mich im Italienurlaub. Wo ich bis vor Kurzem gearbeitet hatte, war alles voller Schlamm, Dreck und kaputter Möbel. Wenn zu den optischen Eindrücken von Fotos, die ich übers Handy geschickt bekommen habe, dann noch Gestank und Feuchtigkeit dazukommen, versteht man langsam. Weil neben allen Therapiegeräten auch sämt-liche PCs weggeschwommen waren, hatte ich bereits von Italien aus über die elektronische Akte Patientenadressen rausgesucht.

Zum Zeitpunkt der Flut befand sich zum Glück niemand im Rehazentrum. Aber das hieß natürlich nicht, dass unsere Patientinnen und Patienten unversehrt waren. Also telefonierten wir alle ab, um uns nach dem Befinden zu erkundigen. Wie wir es letztlich geschafft haben, uns als Team mit 25 Mitarbeitenden so schnell und effektiv zu organisieren, kann ich mir rückblickend kaum erklären. Jeder hat alles gemacht: die Klinik ausräumen, Ersatzräume suchen, sich bei verschiedenen Fachgesellschaften, Freunden, Bekannten und der Bevölkerung um Spenden oder neue PCs kümmern. Pa­rallel dazu sind wir schon in der zweiten Woche ins Flutgebiet gefahren und haben Hausbesuche gemacht.

Wir haben viel improvisiert, vom kognitiven Training am Esstisch bis hin zu Treppensteigen im Hausflur. Die Bereitschaft zu helfen war riesig. Eine benachbarte Kirchengemeinde hat unserem Team einen Raum zur Verfügung gestellt, wo wir in Ruhe sprechen und planen konnten. Dank Ausweichräumen, die uns schon recht bald über die ZNS – Hannelore Kohl Stiftung zur Verfügung gestellt wurden, konnten wir das Therapieangebot zum Teil aufrechterhalten. Als Team bekamen wir zudem Supervision durch eine Traumatherapeutin: Wie geht man mit Flutopfern um? Was passiert bei einer schweren Traumatisierung? Wie können Helfende sich vor Überforderung schützen? In all diesen Fragen gab es einen intensiven Austausch.

Wenn ich zwei Wünsche äußern dürfte, wären es folgende: erstens mehr Anerkennung für alle Berufsgruppen im Gesundheitswesen. Und zweitens, dass die Menschen begreifen, wie ernst es mit der Klimakrise ist. Das Ahrtal ist sonst möglicherweise erst der Anfang.“

„Ich hatte nicht nur Sorge um meine Apotheke, sondern vor allem um meinen großen Sohn“

Katharina Jamitzky, Inhaberin der Adler-Apotheke in Bad Neuenahr:

„Die ersten Tage nach der Flut waren emotional sehr herausfordernd, weil mein Mann und ich keinen Kontakt zu unserem großen Sohn hatten. Er war in der Flutnacht in der Apotheke gewesen. Mein Mann, mein jüngerer Sohn und ich waren ein paar Tage im Urlaub. Mein Ältester ist allein zu Hause geblieben. Er fühlte sich verantwortlich für Mamas Existenz.

Als er über die Medien mitbekam, dass sich da was zusammenbraut, ist er in die Apotheke gefahren, um den Keller auszupumpen. Wir telefonierten, als sich die Lage zuspitzte. Er hat gefragt: ‚Mama, was ist dir am wichtigsten? Das Wasser kommt näher.‘ Ich bat ihn heimzufahren: ‚Nichts ist wichtiger als du.‘ Ich habe mir solche Sorgen um ihn gemacht. Wir sind sofort Richtung Heimat aufgebrochen. Nach zwei bangen Tagen konnte ich meinen Sohn Benedikt endlich in die Arme schließen. Wenn er danach gesagt hätte, dass er an diesen Ort nur schlechte Erinnerungen hat und uns beim Aufbau nicht unterstützen kann, hätten wir keinen Neustart gewagt.

Nach 641 Tagen, am 17. April dieses Jahres, konnten wir das Kapitel ‚Wiederaufbau‘ abschließen. Der Umzug aus dem Apotheken-Container an der Rosenkranzkirche war eine unglaubliche Gemeinschaftsleistung. Das ganze Team hat geholfen, ebenso die Männer meiner Angestellten. Besonderer Dank gilt meinem Mann und meinen beiden Söhnen, die immer für mich da waren. Ohne ihre ständige Hilfe beim Wiederaufbau hätte das Traditionshaus nicht so schnell seine alten Räume beziehen können. Jede freie Minute waren mein Mann und Benedikt auf der Baustelle, haben gewerkelt und die einzelnen Handwerker koordiniert. Nur durch sie ist es möglich, dass die Apotheke wieder erstrahlt. Zudem waren uns meine Eltern eine große Hilfe: Sie haben uns die ganze lange Zeit täglich mit Essen versorgt.

Das Zusammenspiel mit den Ärztinnen und Ärzten hat während der Monate, in denen wir im Container gearbeitet haben, super funktioniert. Auch die Kundinnen und Kunden haben unsere Arbeit unter den provisorischen Umständen geschätzt. Ein sehr großer Vertrauensbeweis, der uns für die Zukunft viel Kraft gibt. Es mag merkwürdig klingen, aber ich habe von Anfang an die innere Stimme gehört, dass alles wieder gut werden wird. Und ja, ich war oft müde, aber vom guten Ende immer überzeugt.

Momente des Zweifelns gab es nur dann, wenn es um Kämpfe mit Versicherungen, Behörden oder Handwerkern ging. Die vergangenen zwei Jahre haben meine Familie unwahrscheinlich zusammengeschweißt. Diese Flut hat sich niemand gewünscht. Sie hat aber gezeigt, dass eine Gemeinschaft, die zusammenhält, solche Situationen meistern kann.“

„Wir hatten unsere Hände, Augen und Ohren und ein Stethoskop“

Dr. med. Astrid Näkel, Fachärztin für innere Medizin aus Dernau:

„Meine Praxis befand sich im Ortszentrum, eine Straße von der Ahr entfernt. Ich bin abends mit meinem Sohn noch mal hin, um nach dem Rechten zu sehen. Das Wasser, das bei unserer Ankunft schon auf der Straße stand, reichte uns 15 Minuten später bis zur Hüfte. Wir konnten uns gerade noch rechtzeitig ins obere Stockwerk retten.

Noch zwei Jahre später wirkt das Erlebte surreal: Scheiben platzten, Türen brachen, der Strom fiel aus. Brückenteile und Autos wurden angeschwemmt. Schließlich überall Wasser und hier und da ein Dachgiebel. Todesangst hatte ich merkwürdigerweise nicht. Aber als ich auf die Dachterrasse trat und runterschaute, sah ich: Meine Existenz war wortwörtlich baden gegangen.

Am nächsten Tag kletterten wir in die Baggerschaufel eines Traktors, der uns etwas oberhalb des Dorfzentrums absetzte. Schon auf dem Weg zum Wohnhaus kamen mir Patienten entgegen. ‚Wir haben keine Medikamente‘, sagten sie. Oder: ‚Mein Rezept ist weg.‘ Ich musste helfen, das war klar, auch wenn alles, was ich hatte, meine Hausbesuchstasche, ein Stethoskop und ein paar restliche Rezepte waren. Ich habe blitzartig das Erdgeschoss meines Wohnhauses, das am Hang liegt, aus- und umgeräumt. Da ich im Umkreis mehrerer Ortschaften die einzige noch praktizierende Ärztin war, kamen die Patienten von überallher. Manche kamen zu Fuß über den Berg, in Wanderstiefeln. Ich habe Verletzungen versorgt, die beim Ausräumen der Häuser entstanden waren, Blasen, die durch die Feuchtigkeit in den Gummistiefeln kamen, und Infektionskrankheiten.

Helfer haben mir Generatoren in den Garten gestellt, so hatten wir wenigstens Strom, um die Medikamente kühl zu lagern. Mir komplett unbekannte Kolleginnen und Kollegen, Sanitäter, Schwestern kamen vorbei, um zu helfen, ohne eine Rechnung zu stellen. Wir waren sieben Tage die Woche von frühmorgens bis spätabends im Einsatz, hatten unsere Hände, Augen und Ohren und ein Stethoskop.

Wo technisch aufwendige Untersuchungen und die ganze Administration wegfallen, kann man 99 Prozent der Zeit für die Betroffenen da sein. Ich möchte nicht auf den modernen Praxisbetrieb verzichten, aber inmitten der Katastrophe hatte es etwas Wohltuendes, zu sehen, dass am Ende der Mensch zählt.“


Quellen: