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Tief im Regenwald schleppt sich ein blinder Mann über eine Lichtung. Mit einer Hand umklammert er einen Gehstock, mit der anderen krallt er sich an seine Tochter. Schritt für Schritt tastet er sich über den sandigen Boden, bis er die Türschwelle eines verrosteten Wellblechbaus erreicht: das Gesundheitszentrum Salabongo im Norden der Demokratischen ­Republik Kongo. Er tritt ein.

Im halbdunklen Untersuchungszimmer steht Dr. Sabine Specht, eine deutsche Wissenschaftlerin. Sie zückt ein Ophthalmoskop, eine Art Taschenlampe, und leuchtet dem Mann, der Sumbu Ramazani heißt, in die Augen. Das rechte ist braun, das linke milchig blau. „Das könnte Oncho sein“, sagt sie – und meint Onchozerkose, eine parasitäre Krankheit, die Menschen das Augenlicht raubt und als Flussblindheit bezeichnet wird. Specht ist gerade auf Forschungsreise. Sie will mit ihrem Team ein neues Medikament entwickeln. Es soll verhindern, dass noch mehr Menschen ein Schicksal ereilt wie Ramazani.

Er sei früher Bauer gewesen, sagt der Mann. Auf seinen Feldern wuchsen Maniok und Erdnüsse. „Jetzt kann ich nichts mehr. Meine Äcker sind zugewuchert. Meine beiden Frauen haben mich verlassen.“ Ramazani ist das, was die Menschen im Kongo einen „Mund ohne Hände“ nennen. Er trägt nicht mehr zum Einkommen der Familie bei, muss aber mit durchgefüttert werden. Eine Bürde im Kongo, einem der ärmsten Länder der Welt. An Spechts Forschung hängt die Zukunft vieler Familien und Gemeinden.

Weltweit sind rund 19 Millionen Menschen von dem Erreger befallen. Fast alle leben in Afrika, fast alle sind so arm wie Ramazani. Die Aussichten auf einen finanziellen Erfolg eines neuen Medikaments sind begrenzt, also gibt es kaum Forschungsgelder. Die Flussblindheit gehört zu den sogenannten vernachlässigten Tropenkrankheiten. „Es ist ein Marathon“, sagt Sabine Specht über den Versuch, ein neues Medikament zu entwickeln. „Aber man kann doch das Leid dieser vielen Menschen nicht einfach so hinnehmen.“ Für Ramazani kommt Spechts Forschung zu spät. Verlorenes Augenlicht ist nicht mehr zu retten. Doch für Specht sind solche Treffen eine Chance, ein Gespür dafür zu bekommen, wie die Menschen unter ihrer Erkrankung leiden, wie heftig bestimmte Regionen betroffen sind, wo Arzneimitteltests möglich wären.

An einem Morgen im Januar 2022 steigt die Wissenschaftlerin nicht weit vom Gesundheitszentrum Salabongo in das Bett des Flusses Onane herab. Plötzlich gerät sie in einen Insektenschwarm. Als sich eines der Tiere auf Spechts weißes T-Shirt setzt, zückt sie ihr Handy und zoomt heran. „Das könnten welche sein“, sagt sie. Sie meint Kriebelmücken, Fachname Simulium damnosum, die bei der Verbreitung der Flussblindheit die entscheidende Rolle spielen.

Beißen Kriebelmücken einen Menschen, können sie einen Parasiten übertragen, der Onchocerca volvulus heißt, einen Fadenwurm. Der nistet sich unter der Haut seiner Opfer ein, produziert bis zu 1000 Larven am Tag. Diese bewegen sich durch die Haut ihres Wirts, um beim nächsten Biss einer Mücke in diese zurückzukehren. Nur im ­Insekt können sie sich weiterentwickeln – und dann wieder einen Menschen befallen. Es ist ein evolutionär entstandener Kreislauf. Genial und brutal zugleich.

Wandern die Larven nicht zurück in eine Mücke, sterben sie. Das löst heftige Immunreaktionen aus. Schwerer Juckreiz gehört dazu. Opfer kratzen sich oft so heftig, dass ihre Haut vernarbt und die Pigmentierung verliert. Sterben die Larven in der Nähe der Augen, kann das die Netzhaut und den Sehnerv zerstören. So entsteht die milchig blaue Trübung, die auch bei Ramazani (Bild oben) zu sehen ist. Die Opfer erblinden.

Mit Ivermectin gibt es ein wirksames Medikament gegen den Parasiten. Das Problem daran ist: Es tötet den Fadenwurm nicht, sondern lähmt ihn nur, verhindert so für ein paar Monate, dass er Larven erzeugt. Um das Erblinden zu verhindern, müssten die Infizierten Ivermectin mindestens einmal pro Jahr nehmen, bis der Parasit eines natürlichen Todes stirbt – oft erst nach zehn Jahren. Eine derartig langwierige Therapie ist im Kongo kaum vorstellbar. Viele Menschen leben dort ohne Strom, fließendes Wasser und ohne Zugang zu einem funktionierenden Gesundheitssystem.

Mit dem Antibiotikum Doxycyclin gibt es sogar einen hochwirksamen Wurm-Killer. Doch das Mittel wirkt nur bei einer mehrwöchigen Anwendung. Und es kann nicht bei Kindern unter elf Jahren und Schwangeren eingesetzt werden. Außerdem müsste die Therapie nach jeder Neuinfektion von vorn beginnen. Ebenfalls undenkbar in entlegenen Gegenden des Kongo. Specht sucht deshalb ein Mittel, das die erwachsenen Würmer ohne großen Aufwand und mit tolerierbaren Nebenwirkungen tötet.

Bereits mit vier Jahren entdeckte Specht ­ihre Faszination für die Biologie. Es gab ­Makrele. Specht untersuchte neugierig die Augen des Fisches, anstatt ihn zu essen. Als junges Mädchen schaute sie später begeistert Wissenschaftssendungen. Nach Abschluss der Schule gab es für sie zwei Optionen: als Forschungstaucherin Unterwasserwelten erkunden oder Biologie studieren. Seit 20 Jahren widmet sie sich nun schon dem Fadenwurm Onchocerca volvulus und wurde zu einer führenden Erforscherin dieses Parasiten. Ein Medikament gegen ihn hat sie noch nicht gefunden. Auf ihren langen Atem angesprochen, zitiert Specht gern ihren Vater: „Wenn du etwas anfängst, musst du es auch zu Ende bringen.“ Seit 2017 arbeitet Specht für die Drugs for Neglected Diseases initiative. Die gemeinnützige Organisation will neue Medikamente bis zur Marktreife entwickeln – gegen Krankheiten, die vor allem Menschen in armen Ländern treffen.

Ein Krankenhaus im Süden des Kongo. Specht steht neben einem OP-Tisch. Darauf liegt unter türkisblauen Laken eine Frau. An ihrer Hüfte ist eine Beule freigelegt: das Nest des Parasiten. Specht schaut zu, wie ein Arzt die Beule aufschneidet, dann mit einer Pinzette den Knoten entnimmt. Es ist ein kritischer Moment. Der Frau wurde Flubentylosin verabreicht, ein chemisch leicht verändertes Antibiotikum aus der Tiermedizin. Jetzt gilt: War der Parasit im Körper der Frau schon vor seiner Entnahme tot, könnte es der ersehnte Durchbruch sein. Specht lässt den Knoten an die Uniklinik Bonn zur Analyse schicken. Monate vergehen.

Ende 2023: Auf einem Monitor erscheint eine animierte Winterlandschaft. Davor ist Spechts Gesicht zu sehen, ein Videoanruf. Sie ist gerade von einer weiteren Reise in den Kongo nach Europa zurückgekehrt. Dort hatte sie die schwierige Aufgabe, den Beteiligten der klinischen Studie zu erklären, dass Flubentylosin nicht gewirkt hat.

Specht wirkt nachdenklich. Die Finanzierung werde nicht leichter, sagt sie. „Krieg in der Ukraine, Israel, Klimakrise – Staaten, die Projekte wie unseres früher gefördert haben, schauen nun noch genauer hin, wie sie ihre Gelder einsetzen.“ Doch Flubentylosin ist nicht das Ende. „Das ist ein normaler Teil der Medikamenten-Entwicklung“, sagt Specht. Allein bei der Verträglichkeitsprüfung fielen etwa 30 Prozent der Präparate durch. Weitere 40 bis 50 Prozent funktionierten nicht im Menschen. Aktuell laufen bereits klinische Studien für zwei weitere Anwärter: die Wirkstoffe Emodepsid und Oxfendazol. „Wenn wir die Entwicklung, Zulassung und einen breiten Zugang in betroffenen Ländern bis 2035 schaffen würden, wäre ich froh“, sagt die heute 49-jährige Forscherin. Sie spricht von einem „Lebensziel“. Sie will zu Ende bringen, was sie angefangen hat: eine Arznei entwickeln, die das Erblinden auch in den ärmsten Gegenden beendet.


Quellen:

  • Drugs for Neglected Diseases initiative (DNDi): Filaria: river blindness, Developing a rapid cure for millions at risk of blindness. https://dndi.org/... (Abgerufen am 30.01.2024)