Logo der Apotheken Umschau

Herr Prof. Stengel, es kann sehr frustrierend sein, wenn sich trotz Diagnostik keine körperliche Ursache für den Schwindel finden lässt. Wie helfen Sie dann?

Zuerst einmal ist unstrittig, dass die Beschwerden da sind. Früher hat man vielleicht gedacht, wenn das Symptom körperlich nicht gut erklärbar ist, kann man nichts machen. Deshalb ist es wichtig, dass die Patienten und Patientinnen wissen: Dem ist nicht so. Man kann Schwindel trotzdem gut behandeln. Dafür sollte man die beeinflussenden Faktoren kennen. Häufig gibt es mehrere. Wir sprechen vom biopsychosozialen Krankheitsmodell.

Das müssen Sie erklären …

Akute oder chronische Stressoren können Schwindel auslösen. Das können Lebensereignisse sein, wenn jemand seinen Job verloren hat oder eine schwerwiegende Erkrankung diagnostiziert wurde. Wenn ein Partner verstorben ist oder auch Traumatisierungen durch Krieg – all das kann dazu beitragen, dass sich eine entsprechende Störung entwickelt. Kenne ich die Auslöser, kann ich daran arbeiten.

Und wenn der Schwindel eine körperliche Ursache hat, etwa der Gleichgewichtsnerv ausgefallen ist oder dergleichen?

Dann stehen womöglich körperliche Therapien im Vordergrund. Aber auch hier kann der Umgang mit der Erkrankung einen Unterschied machen: Was kann ich trotz meiner Beschwerden noch tun? Was für Töne und Nuancen gibt es neben Schwarz-Weiß vielleicht noch? Wo kann ich selbstwirksam werden, Ressourcen aktivieren? Dies sind durchaus auch Inhalte der Psychotherapie bei somatoformen Schwindel, also dem, der keine rein körperlichen Ursachen hat.

Was für Ressourcen könnten das sein?

Das ist bei jedem Menschen anders. Wenn es einem Patienten etwa wichtig war, immer mit dem Hund unterwegs zu sein, und er das wegen des Schwindels eingestellt hat, dann schauen wir: Wo könnte man lang laufen, oder vielleicht auch, wer könnte begleiten, wenn eine gewisse Unsicherheit besteht? Also was kann ich selbst tun, was mir wieder mehr Lebensqualität gibt?

Schwindel kann ja auch Angst machen. Wie gehen Sie vor, damit Betroffene wieder Mut und Vertrauen fassen?

Zuerst muss man wissen: Schwindel kann mit depressiven Störungen und Angststörungen vergesellschaftet sein. Und Schwindel ist auch ein Angstsymptom. Da muss man ein Stück weit schauen: Was steht im Vordergrund? Wenn die Angst den Leidensdruck macht, dann schauen wir in der Therapie: Was ist es, was am meisten Angst macht, und was ist darunter anzusiedeln? Angst machende Situationen kann man sich im Rahmen der Psychotherapie zuerst vorstellen. Später ist es auch möglich, sich in echte Situationen zu begeben.

Wann kann Angst denn berechtigt sein?

Wenn jemand zum Beispiel wegen des Schwindels schon mal umgefallen ist oder sich verletzt hat, ist die Angst nachvollziehbar. Aber gerade mit zunehmender Krankheitsdauer kommen häufig immer mehr irrationale Ängste dazu, katastrophisierende Ängste wie „Das wird immer schlimmer“. Unser Job ist es unter anderem, mit dem Patienten unterscheiden zu lernen: Was sind rationale Ängste und was irrationale?

Wie lange dauert es denn im Schnitt, bis sich eine Besserung einstellt?

Binnen zwei bis drei Monaten würde ich durch die Psychotherapie eine Besserung der Symptome erwarten. Kombiniert werden kann diese mit Entspannungsverfahren, gerade wenn auch körperliche Unruhe und Anspannung eine Rolle spielen. Und man kann auch medikamentös unterstützen, etwa mit Psychopharmaka.

Wie hilfreich sind Medikamente in diesem Fall? Häufig können sie ja auch Schwindel auslösen – als Nebenwirkung.

Ich würde immer eine Nutzen-Risiko-Abwägung machen. Und die Leute motivieren: „Probieren Sie es aus! Wir ziehen nach vier bis sechs Wochen Zwischenbilanz.“ Und dann schauen wir, was ist an positiv erlebter Wirkung und was an potenziell negativer Wirkung da? Und was steht im Vordergrund?


Quellen: