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Schluss jetzt, geh auf dein Zimmer!“ Wenn ich meinen Mann Georg Sätze wie diesen zu unserem Sohn sagen höre, spüre ich einen Stich im Herzen. Denn ganz ehrlich: Unsere Elternschaft hatte ich mir anders vorgestellt. Noch bevor ich überhaupt schwanger war, wusste ich, dass ich meine künftigen Kinder ohne Strafen erziehen will. Denn wie fies sie sich anfühlen, habe ich als kleines Mädchen selbst erlebt. Allerdings – und das muss ich zugeben – kamen in meiner Vorstellung der perfekten Familie auch keine Kleinkinder vor, die wütend Brokkoli an die Wand pfeffern, und keine Geschwisterstreits, bei denen man Angst hat, dass jede Sekunde Blut fließen könnte. Momente, die wir im Alltag mit unseren Söhnen, drei und sechs Jahre alt, vielleicht nicht täglich, aber zumindest wöchentlich erleben und in denen Georg sagen würde: „Jetzt müssen wir durchgreifen!“

Was das konkret bedeutet? Tablet-Verbot zum Beispiel. In meinen Augen eine klassische Strafe und damit ein No-Go. Mein Weg: Emotionen spiegeln („Ich sehe, du bist sehr wütend“), erklären, warum das Verhalten trotzdem nicht okay ist, und in Aktion treten („Ich setze mich jetzt zwischen euch!“). Klingt in der Theorie toll, funktioniert in der Praxis jedoch selten – und das ist unser Problem. Mein Mann will schnelle Lösungen, ich schon auch, aber nicht auf Kosten der Beziehung zu meinen Kindern. Was der bessere Weg ist, darüber streiten wir fast jede Woche.

Ein Konflikt, den Familienbegleiterin Inke Hummel in ihrer Beratungspraxis oft erlebt. „Viele Eltern sind in Erziehungsfragen unterschiedlicher Meinung“, sagt sie. „Aber es ist möglich, gemeinsam eine Lösung zu finden, die für alle passt.“ Darüber will ich mehr wissen. Wie soll das gehen? Warum haben so viele Eltern unterschiedliche Vorstellungen vom Erziehen? Hängt es vor allem davon ab, wie wir selbst aufgewachsen sind?

„Zum Teil hängt es natürlich mit unserer Sozialisierung zusammen“, weiß Inke Hummel. Wir alle wachsen mit Rollenerwartungen und Geschlechterstereotypen auf. Etwa Sätzen wie „Männer müssen hart sein und durchgreifen“ und „Frauen müssen lieb sein und trösten“. Sich davon im Laufe seines Lebens zu lösen, ist nicht leicht. Man muss aktiv etwas dafür tun.

Was, wenn es nicht funktioniert?

Hummel empfiehlt, im Austausch mit anderen zu sein, Bücher zu lesen, Podcasts zu hören und so weiter. Das Problem: Die Auseinandersetzung passiert meist bei dem Part, der die meiste Zeit mit den Kindern verbringt – statistisch gesehen die Mutter. Ein erster Schritt ist also, dass sich alle Elternteile informieren. Die Väter also gleichermaßen. „Es ist einfach wichtig zu wissen, was es mit einem Kind macht, das ständig Drohungen hört oder gar bestraft wird“, so Hummel. Das Kind „funktioniert“ dann vielleicht sogar augenscheinlich im Alltag besser, aber nicht aus einer eigenen Motivation heraus, sondern weil es Angst vor seinen Eltern hat. Will man wirklich so eine Beziehung zu seinem Kind? Oder wünscht man sich ein Miteinander, bei dem jedes Familienmitglied gleich viel wert ist?

Aber was, wenn das Miteinander einfach nicht funktionieren will? Wenn immer wieder Konflikte entstehen? „Genau hinschauen!“, sagt Hummel. „Wann kommt es zu Konflikten? Was könnte die Ursache dafür sein?“ Die Gründe sind oft unterschiedlich: Ist mein Kind vielleicht am späten Nachmittag einfach zu müde, um zu kooperieren? Ist sein Bindungstank am Morgen gut gefüllt, bevor es trubelig wird? Fühlt sich das Kind mit seinen Bedürfnissen im Alltag gesehen? Formuliere ich meine eigenen Wünsche klar verständlich? Haben wir als Eltern gemeinsame, verständliche Regeln etabliert? Und noch eine Sache macht Inke Hummel klar. „Grundsätzlich gilt: Jedes Kind will in einer sicheren Beziehung zu den Eltern sein.“ Was Inke Hummel sagt, kommt mir bekannt vor. Tatsächlich kracht es zwischen unseren Söhnen meistens am Abend, wenn alle erschöpft sind – auch wir Eltern. Eins kommt zum anderen, am Ende weinen oder schreien alle. Mein Mann schickt einen der Jungs auf sein Zimmer und es fließen noch mehr Tränen. Für mich schwer aushaltbar. Doch tröste ich unsere Kinder, hat mein Mann das Gefühl, dass ich ihm in den Rücken falle, und vielleicht stimmt das auch ein bisschen. Ja, ich finde seinen Weg manchmal falsch. Am liebsten würde ich dann in das „Blöder Papa!“ meiner Kids mit einstimmen.

Wir müssen uns zusammensetzen

Vielleicht habe ich das sogar schon ein- oder zweimal gemacht und laut zu meinem Großen gesagt: „Ich finde Papas Verhalten auch nicht okay.“ Wahrscheinlich nicht besonders smart von mir. Oder?

„Bis zu einem gewissen Grad ist es für Kinder völlig in Ordnung, wenn Mama und Papa in Erziehungsdingen unterschiedlich handeln, wenn Papa zum Beispiel strenger ist“, beruhigt mich Inke Hummel. Wichtig ist, dass beide sich bei den grundlegenden Familienregeln einig sind. Und dass Themen nicht vor den Kindern ausdiskutiert werden – und man dem anderen Elternteil gegenüber wohlwollend bleibt. Denn das Gegenüber will ja meistens auch das Beste für die Kinder und macht nicht absichtlich alles falsch.

Trotzdem gibt es natürlich Grenzen. Gewalt zum Beispiel. Natürlich müssen Kinder vor körperlicher und verbaler Gewalt geschützt werden. Oft ist das aber gar nicht so einfach. Die Frage ist: Wo fängt die an? „Für die einen ist – meiner Meinung nach zu Recht – ein ‚Bist du blöd?!‘ schon verbale Gewalt, für andere ist es einfach ein impulsiver Ausruf“, sagt Hummel. Energisches Anfassen, etwa an der Hand oder Schulter, sei auch ein Punkt, den viele Eltern unterschiedlich bewerten. Eine gemeinsame Linie findet man am Ende durch Austausch. Das gelte auch für andere Konfliktthemen in der Partnerschaft. Man muss sich zusammensetzen, klar sagen, wie man sich seine Mutter- oder Vaterschaft vorstellt, verhandeln und dann einen Kompromiss finden. Inke Hummel rät: Wenn man das nicht alleine schafft, sollte man sich professionelle Unterstützung suchen – zum Beispiel bei einer Familienberatungsstelle oder einer therapeutischen Praxis. Wichtig ist, jemanden zu finden, der bindungsorientiert arbeitet. Hummel weiß aus Erfahrung: „Manche Väter können Ratschläge von männlichen Therapeuten besser annehmen. Einfach ausprobieren!“ Das haben wir gemacht und von unserer Familientherapeutin tatsächlich einige gute Impulse bekommen. Was uns beiden am meisten geholfen hat? Zu wissen, dass das Verhalten unserer Kinder ganz normal ist, dass Wutanfälle und Geschwisterstreit eben dazugehören. Ich würde jetzt gerne schreiben: „Und an unseren Erziehungsdifferenzen arbeiten wir.“ Doch das wäre gelogen. Eigentlich macht eher jeder weiterhin sein Ding und ist vom eigenen Weg überzeugt. Ab und zu spiele ich Georg einen Podcast zum Thema vor und sage „Siehst du!“ – mit mäßigem Erfolg. Ich hoffe einfach, dass sich einige unserer Probleme in Wohlgefallen auflösen, wenn die Kinder älter werden. Und dass sie trotz Tablet-Verbot immer spüren: Der „blöde Papa“ liebt mich.

Unsere Expertin

Inke Hummel

ist Pädagogin, Dozentin und Autorin zahlreicher Ratgeber. Sie hilft als Familienbegleiterin und Erziehungsberaterin dabei, gelassener mit Kindern zu leben.