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Der große beschimpft den kleinen Bruder im Streit lautstark als „Kackklobrille!“. Das Kleinkind ruft bei jedem umgestürzten Türmchen wütend: „So ein arschiger Drecksmist.“ Oder es fliegen mal wieder ein „Du Scheißpapa!“ oder „Du alte verbrannte Socke“ durch die Luft. Ja, Himmel, Arsch und Zwirn! Woher haben die Kinder das bitte?! Und können wir Eltern das guten Gewissens so durchgehen lassen?

Forschende sagen: Ja, können wir –meistens. Sofern Kinder damit niemanden beleidigen, sollten sie verdammt noch mal fluchen dürfen! „Diese Wörter gehören einfach zum Spracherwerb“, erklärt die Wiener Sprachwissenschaftlerin und Buchautorin Oksana Havryliv, die zu Schimpfwörtern forscht. Genauso selbstverständlich sollte es sein, elementare Emotionen wie Wut, Zorn oder Trauer ausdrücken zu dürfen – das gilt auch für Kinder.

Kleinkinder haben kaum Gefühl für Normen

Fahren wir dem Nachwuchs stattdessen mit einem säuerlichen „Das sagt man doch nicht!“ über den Mund, verhalten wir uns wenig vorbildhaft, denn wir schimpfen im Prinzip selbst zurück. Und man erreicht damit bei den Kleinen nicht mal was. „Bis etwa zum vierten Geburtstag haben Kinder kaum oder wenig Gefühl für Normen“, erklärt die Pädagogin und Autorin Eliane Retz aus München. Mit so einer pauschalen Aussage können Kleinkinder also oft noch gar nichts anfangen.

Retz gibt zudem zu bedenken: „Die versteckte Message hinter einer Zurechtweisung wie ‚So was will ich nicht hören!‘ lautet: Es gibt Tabus, über die wir bei uns nicht sprechen. Dabei wäre in jeder Familie ein Klima der Offenheit wünschenswert, in der sich alle angstfrei äußern können. Wenn es aber Wörter gibt, die ein Kind nicht sagen darf, ist es unter Umständen sprachlos, wenn es wirklich wichtig ist, weil ihm zum Beispiel etwas Schlimmes passiert ist.“

Generell können und sollten wir Eltern uns also entspannen, wenn die Kleinen in fäkal-analen Wortbädern schwimmen. Das ist auch generell eine clevere Gegentaktik: „Für Kinder sind Schimpfwörter Zauberwörter, mit denen sie sofort die Aufmerksamkeit der Erwachsenen gewinnen oder ihre Freunde zum Lachen bringen“, sagt Oksana Havryliv. Reagieren wir kaum oder gar nicht, verlieren diese Wörter schnell ihren Reiz.

Fluchen ist Stressbewältigung

Wenn das Kind mit Wörtern Dampf ablässt, könnten wir ihm eigentlich sogar gratulieren: Es hat offenbar eine weitere Form der Stressbewältigung gelernt. „Mit einer Enttäuschung oder einem Ärgernis klarzukommen und sich dafür nicht schreiend auf dem Boden zu wälzen, ist ein wichtiger Entwicklungsschritt“, erklärt Eliane Retz. „So entsteht emotionale Distanz zu einer gewissen Situation – und das wirkt beruhigend.“

Damit das Fluchen in die richtige Bahn gelenkt wird, sollten wir dem kleinen Rumpelstilzchen beibringen, wie es konstruktiv schimpft. „Dafür erstens nicht das Kind kritisieren, sondern nur die Wörter, die es benutzt“, sagt Oksana Havryliv. Also etwa: „Das ist kein gutes Wort, das du da verwendest.“ Dann in zwei, drei Sätzen einen Perspektivenwechsel anstoßen, auch bei kleinen Kindern, rät Retz: „Stell dir mal vor, jemand würde dich Kackklobrille nennen. Da würde doch was fehlen! Genau, dein Name!“

Gut ist auch, das Kind zu ermuntern, ärgerliche Situation zu beschreiben: „Das hat dich geärgert. Du willst das Spielzeug selbst haben. Was können wir jetzt machen?“ So lernt es zu erkennen, was es selbst oder was andere fühlen, wie es diese Gefühle ausdrücken und wie es sie regulieren kann. Am Ende entsteht daraus hoffentlich viel emotionale Kompetenz. Und die wirkt sich erwiesenermaßen sowohl auf die schulische und soziale Entwicklung als auch auf die physische und psychische Gesundheit positiv aus.

Das Schimpfen an sich hat übrigens auch einen positiven Effekt auf den Körper: Ein deftiges „Scheiße noch mal!“ ist nämlich deshalb so herrlich befreiend, weil dabei Hormone wie Adrenalin, Cortisol und Endorphine ausgeschüttet werden. Das dämpft die körperliche Pein, etwa die eines eingeklemmten Fingers. Es lindert aber auch sozialen Schmerz, der im gleichen Hirnareal verarbeitet wird. Der pikst ein Kind zum Beispiel, wenn der Bruder ihm das beste Spielzeug aus der Hand reißt. Oder die Mama die zehnte Süßigkeit des Tages verbietet, nach der es sich doch wahnsinnig sehnt, so ein Kackdreck!

Die fäkale Phase gehört einfach dazu

Sicher, leicht auszuhalten ist das für uns Eltern nicht immer, gerade wenn man wegen des verwehrten Süßkrams mal wieder eine „Scheißmama!“ ist. Trotzdem ist auch hier die beste Reaktion eine unaufgeregte. „Kinder wollen uns mit solchen Beschimpfungen fundamental infrage stellen, um im besten Fall die Erfahrung zu machen: Mama oder Papa zerbrechen nicht daran. Sie bleiben mir zugewandt“, erklärt Retz. Mit einem „Okay, wenn du denkst, du musst mir das jetzt sagen, dann mach das …“ ist dann auch schon alles gesagt. Kommt es öfter vor, wahrt man die eigene Grenze etwa so: „Du kannst das ein-, zweimal sagen. Aber wenn du mich ständig anschreist, habe ich auch keine Lust mehr, mit dir zu spielen.“

Und wenn am Esstisch alles „Pupsi-Kacka“ ist? Lästig, aber: „Das kindliche Interesse an Ausscheidungen gehört zur Entwicklung. Seien Sie bei diesen Wörtern großzügig“, rät Retz. „Wenn es zu sehr nervt, können Sie auch den Fokus umlenken: ,Jetzt hast du das oft genug gesagt und wir können mal wieder etwas anderes machen. Auf was hast du Lust?‘“

Also schön die Nerven behalten, auch wenn größere Kinder mit frauenverachtenden oder anderen diskriminierenden Wörtern daherkommen. „Erklären Sie dann, wofür dieses und jenes Wort steht und warum das zum Beispiel Frauen oder Menschen mit Beeinträchtigung kränkt. Oft sind Kinder sich der Tragweite dieser Wörter nicht bewusst und finden diese Gespräche total interessant“, sagt Retz. Sapperlot!

Wo kommen Schimpfwörter her?

Entscheidend ist die Gesellschaft, in der man lebt – und der entsprechende Tabubruch. Deutsche etwa gelten als reinlich und ordentlich. Deshalb sind hier fäkal-anale Ausdrücke wie „Arschloch“ beliebt. Sexuell wird unter anderem im angloamerikanischen Raum und auf dem Balkan geschimpft. Dort wird oder wurde Sexualität eher unterdrückt. Gotteslästerlich flucht man wegen des lebendigen Glaubens zum Beispiel in Italien oder Spanien. Im Nahen Osten, wo Familie heilig ist, beleidigt man meist Verwandte des Gegenübers, etwa die Mutter.