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Plötzlich raschelt etwas in den Halmen und Blättern, die noch ganz feucht vom Regen sind. „Da“, sagt Thomas Behrends und nimmt ein Tierchen in die Hand, so klein wie ein Zwei-Euro-Stück: „eine einjährige Erdkröte.“ Der Freilandbiologe und Insektenforscher steht auf einer Magerwiese bei Lauenburg in Schleswig-Holstein und war gerade dabei, den ökologischen Mehrwert des Feld-Beifußes zu erklären: „Rüssel- und Blattkäfer, Schmetterlinge, Wanzen – an dieser Pflanze können sieben, acht verschiedene Insektenarten leben wie in einem Mehrfamilienhaus.“

Behrends, ein schlanker Mann in Stiefeln und Matschhose, ist Referent für Naturschutz und Biodiversität beim Naturschutzbund (NABU) Schleswig-Holstein. Er hat das Naturschutzgebiet an der Grenze zu Mecklenburg-Vorpommern als Treffpunkt vorgeschlagen, um über Artenvielfalt zu sprechen. Für ihn beginnt sie genau hier, mit Pflanzen wie dem Feld-Beifuß oder der immer seltener werdenden Heidenelke, die neben gut 100 anderen Pflanzen auf dem rund 3,5 Hektar großen Gebiet wächst. Und sie endet auch hier, wofür sinnbildlich der angrenzende Acker steht, auf dem nicht mehr zu sehen ist als ein wenig von Pflanzengift gelbbraun gewordener Quecke. Behrends spricht von „winzigen Pünktchen“, auf die die Artenvielfalt in Schleswig-Holstein mittlerweile reduziert sei.

Nur auf dem Papier

Dass dies für ganz Deutschland gilt, zeigten zuletzt italienische Forschende: Nur 0,6 Prozent der Fläche sind hierzulande streng geschützt – der drittschlechteste EU-Wert. Zwar ist ein größerer Anteil der Landfläche, gut 30 Prozent, mit einem Schutzstatus versehen. Dem wird die Bundesrepublik aber so wenig gerecht, dass die EU bereits geklagt hat. In Schleswig-Holstein etwa verschwanden in den vergangenen drei Jahrzehnten 87 Prozent von eigentlich geschütztem, artenreichen Feuchtgrünland. Feuchte Wiesen mit Sumpfdotterblumen gibt es zum Beispiel so gut wie gar nicht mehr.

Dr. Demetra Rakosy spricht von Verinselung: „Viele der Naturschutzgebiete sind klein, isoliert und umgeben von intensiver Landwirtschaft“, erklärt die Expertin für räumliche Interaktionsökologie am Deutschen Zentrum für integrative Biodiversitätsforschung Halle-Jena-Leipzig. „Je isolierter ein Gebiet ist, desto schwieriger ist der Austausch der Arten, desto empfindlicher werden diese und desto eher sterben Populationen aus, wenn Krankheiten oder Extremwetterereignisse auftreten.“

Unheilvolle Kettenreaktion

Die Folgen sind sichtbar: Drei ­Viertel aller Fluginsekten gelten hierzulande als ausgerottet. Darunter ist etwa der Gelbling, ein auf eine bestimmte Ginster-Art spezialisierter Schmetter­ling, der wiederum so selten geworden ist wie der Magerrasen, auf dem seine Pflanze wächst. Das Insektensterben wiederum setzt zahlreiche andere Tiergruppen unter Druck. Vögel etwa, aber auch Lurche. Zu ihnen gehört der Feuersalamander, dem der Verlust an Lebensräumen schon zugesetzt hatte, bevor ein eingeschleppter Pilz ihn nun auszurotten droht. Seine Larven, die er in Gewässer legt, würden wiederum Fischen und Flusskrebsen fehlen.

Es ist ein Dominoeffekt, der sich auch an den Zahlen der Roten Liste für bedrohte Tier- und Pflanzen­arten in Deutschland zeigt: 33 Prozent der Wirbeltiere, 34 Prozent der wirbellosen Tiere, 31 Prozent der Pflanzen und 20 Prozent der Pilze stehen darauf. Der Artenschwund ist so dramatisch, dass sich Netzwerke gebildet haben, die sich der Erhaltung von Tierarten verschrieben haben: „Citizen Conservation“ managt die Zusammenarbeit von privaten und beruflichen Haltern wie Zoos, um etwa den Feuersalamander über die Zeit zu retten, in der Hoffnung auf Besserung in seiner natürlichen Umgebung. Auch was den Erhalt von Lebensräumen betrifft, ist viel Ehrenamt im Spiel: Privatpersonen, Ini­tiativen oder Ortsgruppen pflanzen und pflegen Bäume oder kämpfen gegen eingeschleppte Arten an.

Freiwillige Helferinnen und Helfer sind auch in dem Naturschutzgebiet aktiv, in dem Thomas Behrends gerade einen Blattkäfer in ein Röhrchen steckt, um ihn später zu bestimmen. Der NABU hat für 50 der 300 Schutzgebiete in dem Bundesland einen Betreuungsvertrag geschlossen – in 47 davon leisten Ehrenamtliche die Arbeit und kommen mit der kaum hinterher. „Viele denken, man täte der Natur etwas Gutes, wenn man sie sich selbst überlässt“, erklärt Behrends. „Ein Trugschluss. Naturschutzgebiete müssen gepflegt werden.“ Zusammen mit der örtlichen NABU-Gruppe überlegt er, wie sich das Gebiet beweiden ließe, um den Gräsern beizukommen, die sich auf der Magerwiese ausbreiten und andere Arten zu verdrängen drohen.

Was passieren kann, wenn gezielte Landschaftspflege ausbleibt, zeigt Behrends am Beispiel einer Eichenallee. Sie war der Anlass, das Gebiet vor mehr als 25 Jahren auszuweisen. An den Bäumen fanden sich seltene Käferarten wie der Rotflügelige Schildlaus-Breitrüssler. „Danach ist hier nichts mehr gemacht worden“, sagt er und zeigt auf Birken, die den Eichen das Licht nehmen. Die stolzen Eichen, sie wirken ziemlich krank und kümmerlich. „Und der Käfer“, sagt Behrends, „ist mittlerweile ausgestorben.“

So können auch Sie sich engagieren

• An vielen Orten gibt es Naturschutzgruppen. Sie können sie bei Pflanzaktionen, Krötenwanderungen oder der Baumpflege unterstützen.

• Helfen Sie mit, Daten zu bestimmten Arten zu sammeln. Der NABU veranstaltet regelmäßig Zähl- und Beobachtungsaktionen. Auf www.mitforschen.org finden sich zahlreiche solcher Citizen-Science-Projekte.

• Lust, unter die Züchter zu gehen und so Arten zu erhalten? Dann informieren Sie sich zum Beispiel bei der Citizen Conservation (www.citizen-conservation.org).

• Gestalten Sie Ihren Balkon oder Garten tierfreundlich: Wählen Sie einheimische alte Pflanzensorten aus. Bieten Sie Nistgelegenheiten für Vögel und Insekten. Totholz-Ecken und Sandflächen mögen sie oft lieber als Insektenhotels aus dem Baumarkt zum Kaufen.

• Neues Gewerbegebiet, Ortsumfahrung? Beteiligen Sie sich an Abstimmungen zu örtlichen Bauprojekten. Durch sie werden wertvolle Lebensräume oft für immer zerstört.

Feuersalamander

Susann Schmidt, 45, und Miley, 11, aus Hilgert: „Als Kind habe ich noch oft Feuersalamander gefunden. Miley hingegen hat noch nie einen in freier Wildbahn gesehen, obwohl die Amphibien hier im Westerwald eigentlich verbreitet sein müssten. Für uns zeigt das, wie wichtig die Arbeit ist, die wir als Teil des Erhaltungszuchtprogramms Citizen Conservation leisten. Nachdem wir einen Lehrgang absolviert hatten, vermittelte man uns zwei Salamander aus dem Schweriner Zoo. Seit eineinhalb Jahren leben Blitz und Donner nun bei uns, in einem Terrarium im Keller, wo es nicht zu warm für sie ist. Draußen fangen wir Schnecken oder Regenwürmer für sie und hoffen, dass es bald Nachwuchs gibt.“

Kopfweiden

Andrea Fritsche, 57, aus ­Weißensee: „In diesem Jahr feiert unsere Initiative Landschaftspflege 30. Geburtstag. Ich habe sie mit meinem Vater gegründet, weil ich heute wie damals der Meinung bin, dass Naturschutz und der Erhalt der Artenvielfalt im Kleinen beginnen. Gäbe es uns nicht, würde es den Tausenden Kopfweiden mit ihren markanten Verwachsungen, die es in und um Weißensee im Thüringer Becken gibt und um deren Pflege wir uns kümmern, sicher schlechter gehen. An ihnen leben bis zu 100 Käferarten, die wiederum anderes Getier wie das Mauswiesel anziehen. Wir haben auch etwa 1000 Obst- und 10 000 andere Bäume gepflanzt und einen Kräutergarten mit 120 teils alten Heil- und Gewürzpflanzen angelegt. Zu unseren Aktionen kommen viele Familien, die wir über die Schulen und Kitas erreichen. Wenn wir mit ihnen Futterhäuschen bauen und aufstellen, können wir oft sehen, wie erfolgreich unsere Arbeit ist: Manchmal zählen wir bis zu 30 Vogelarten.“

Skudden

Norbert Westphal, 68, aus Horst: „Seit gut 20 Jahren züchten meine Frau und ich Skudden. Das Nordische Heideschaf ist eine der ältesten Schafrassen Europas und vom Aussterben bedroht. Wir haben bis zu 70 Tiere. In ganz Deutschland gibt es vielleicht noch 2300 davon, ihre Zahl sinkt kontinuierlich. Skudden sind mit dem Wildschaf noch sehr eng verwandt und deshalb sehr robust und wenig krankheitsanfällig. Vor allem können sie ohne Probleme auch auf unseren feuchten Moorflächen ganzjährig leben, die wir extensiv, also nur mit wenigen Tieren und ohne zusätzliche Düngung, bewirtschaften. Die Skudden halten die Flächen offen, damit möglichst viele verschiedene Pflanzen und Kräuter auf den Weiden wachsen können. Sie fressen verschiedene Gräser, Brennnesseln, Disteln und Binsen, die sich auf Feuchtwiesen sonst sehr schnell ausbreiten. Das ist aktiver Naturschutz und sorgt für mehr Artenvielfalt.“


Quellen:

  • R. Cazzolla Gatti, P. Zannini, Universität Bologna, Italien: Analysing the distribution of strictly protected areas toward the EU2030 target. Biodiversity and Conservation: https://link.springer.com/... (Abgerufen am 27.03.2024)
  • Dr. S. Lütt, K. Dethmann, Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein: Die Inventur der Natur, Ergebnisse der landesweiten Biotopkartierung 2014 bis 2020. Online: https://www.schleswig-holstein.de/... (Abgerufen am 27.03.2024)
  • NABU, Schleswig-Holstein: Jetzt amtlich: Zustand der Natur dramatisch verschlechtert. Online: https://schleswig-holstein.nabu.de/... (Abgerufen am 27.03.2024)
  • C. Hallmann, M. Sorg, Radboud Universität Nijmegen, Niederlande, Entomologischer Verein Krefeld e. V. : More than 75 percent decline over 27 years in total flying insect biomass in protected areas. PLoS ONE Online: https://journals.plos.org/... (Abgerufen am 04.04.2024)
  • C. Outhwaite, P. McCann, University College London: Agriculture and climate change are reshaping insect biodiversity worldwide. Nature: https://www.nature.com/... (Abgerufen am 04.04.2024)
  • International Union for Conservation of Nature, IUCN: The IUCN Red List of Threatened Species. Online: https://www.iucnredlist.org/... (Abgerufen am 08.04.2024)