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Was ist Rawdogging?

Nichtstun, starren, die Langeweile ertragen. Rawdogging ist der bewusste Verzicht auf jegliche Ablenkung und Unterhaltung – insbesondere in Situationen, die als langweilig oder unangenehm empfunden werden. Ein typisches Beispiel dafür sind Langstreckenflüge, auf denen die Rawdogger keine Musik hören, keine Bücher lesen und auch keine Filme schauen. Ebenso achten sie darauf, nicht einzudösen. Stattdessen widmen sie sich dem Nichtstun. Es geht darum, die eigene Langeweile und inneren Unruhe auszuhalten.

„Was das Gehirn betrifft, so können wir im strengen Sinne nicht ‚nichts tun’ — unser Hirn ist immer beschäftigt. Aber wir können uns möglichst unabhängig von äußeren Einflüssen machen“, sagt Neurobiologe Prof. Dr. Martin Korte von der Technischen Universität Braunschweig. Und das fällt uns wohl vor allem aus evolutionären Gründen schwer. „Man kann sich gut vorstellen, dass unsere Vorfahren, die nicht auf ihre Umwelt reagiert haben, eher nicht überlebt haben“.

Wer im Flugzeug ‚nichts‘ macht, will sich genau dieser Schwierigkeit stellen. Fußballprofi Erling Haaland kommentierte sein Nichtstun im Flugzeug auf Instagram mit „#Easy“. Man sieht, dass die Langeweile hier als Herausforderung verstanden wird, mit der man sich profilieren und beweisen kann.

Woher kommt der Begriff Rawdogging?

Rawdogging bezeichnet ursprünglich Sex ohne Kondom. Entsprechend übertragen ist hier wohl gemeint: Man fliegt ohne weiteres Equipment, nur mit sich selbst, hat ein ‚pures‘ Erlebnis. Teilweise wird das pure Erlebnis ohne Drumherum auch auf andere Aktivitäten übertragen: Rawdogging funktioniert auch beim Kochen (ohne Rezept), beim Wandern (ohne Karte) oder beim Joggen (ohne Musik).

Rawdogging ähnelt Dopamin-Fasten

Der Rawdogging-Trend ähnelt dem sogenannten Dopamin-Fasten. Normalerweise greifen wir in unserem Alltag ständig auf viele kleine Dopamin-Kicks zurück. Vor allem unerwartete positive Ereignisse — ein lustiges Video, ein Like, eine Nachricht — empfinden wir als belohnend.

Also scrollen wir durch soziale Medien, zocken Videospiele, hören Podcasts und Musik oder schauen Filme. Wir vermeiden ständig Langeweile. Und das ist leicht wie nie zuvor.

Das Problem: Wir gewöhnen uns an die ständige Ablenkung. Geistig anstrengendere Dinge, die sich nicht so belohnend anfühlen — die Klassiker sind etwa Arbeit und Lernen — werden für uns dadurch noch langweiliger. Es wird immer schwieriger, uns damit lange zu beschäftigen.

Wer Dopamin-Fasten betreibt, verzichtet bewusst eine Zeit lang auf solche Ablenkungen. „Der Begriff Dopamin-Fasten ist etwas unglücklich gewählt und ist eher als Metapher zu verstehen“, sagt Korte. Man verzichte nicht generell auf Dopamin, sondern auf bestimmte Tätigkeiten, die sehr belohnend für uns seien.

„Wir haben quasi zwei Aufmerksamkeitssysteme, die sich auch mit bestimmten Hirnregionen verbinden lassen.“ Eines könnte man als ‚inneren Antrieb‘ bezeichnen. Mit ihm gehen wir Aufgaben nach, die wir uns vorgenommen haben. Das andere System reagiert auf äußere Reize, wie etwa Ablenkungen. „Wer sogenanntes Dopamin-Fasten betreibt, versucht eigentlich, das Aufmerksamkeitssystem für Ablenkungen nicht überhandnehmen zu lassen“, sagt Korte.

Ist Rawdogging nur eine Willensprüfung?

Auch beim Rawdogging verzichtet man bewusst auf unterhaltsame Aktivitäten und lässt den Geist möglichst unbeschäftigt. Rawdogging wird von vielen aber auch als eine Art Challenge, als eine Probe betrieben. Im Vordergrund steht dann weniger der positive Effekt nach einer solchen Langeweile-Kur. Sondern es geht vor allem darum, es mit eisernem Willen und Disziplin geschafft zu haben, die Langeweile zu überstehen.

Und tatsächlich ist das gar nicht so einfach. Mehrere Studien legen nahe, dass bloßes Nichtstun von vielen Menschen als unangenehm empfunden wird. Zwar neigen Menschen dazu, geistige Anstrengung eher zu vermeiden. Das kennen wohl fast alle aus ihrem Alltag. Gleichzeitig wird aber auch komplettes Nichtstun als belastend empfunden. Anders gesagt: Langeweile lange auszuhalten, ist schwer. Deshalb neigen wir dazu, lieber anstrengende Aufgaben zu wählen, als gar nichts zu tun.

Das ist übrigens auch eines der Hauptziele des Dopamin-Fastens: dass wir wieder Lust auf Sachen bekommen, die wir sonst langweilig finden würden. „Langeweile kann äußert produktiv sein. Oft finden wir erst durch sie die Ruhe, uns endlich mit bestimmten Problemen oder Aufgaben einmal richtig zu beschäftigen“, sagt Neurobiologe Korte. Wir nutzen dann Netzwerke in unserem Gehirn, die sonst weniger gebraucht werden. Das führe dann oft zu kreativen Gedankengängen.

Und das zeigt zugleich, dass Rawdogging eher eine Art Willensprüfung ist: In vielen der Social-Media-Posts ist jedenfalls nicht die Rede davon, die Langeweile nun produktiv für andere Dinge zu nutzen. Man nimmt sie nicht zum Anlass, kreativ oder produktiv zu werden. Sondern man feiert die eigene Willensstärke, diese Herausforderung bestanden zu haben.

Wie gefährlich ist Rawdogging?

Auch wenn immer wieder von tödlicher Langeweile die Rede ist, gefährlich ist Nichtstun erst einmal nicht. Im Extremfall wird beim Rawdogging auf das Trinken verzichtet, was gerade bei langen Flügen ungesund sein kann. Auch das starre Sitzen ohne zwischenzeitliche Bewegung kann das Thrombose-Risiko während eines Fluges erhöhen.

Wie Achtsamkeit und Meditation – kann Rawdogging Vorteile haben?

Rawdogging ähnelt Achtsamkeitsübungen oder der Meditation. Wer achtsam ist, bemüht sich oft, einzelne Augenblicke bewusst wahrzunehmen. Etwa, indem man kurz innehält und sich nicht mit anderen Dingen ablenkt. Und auch beim Meditieren geht es vielen darum, die Welt um sich herum auszublenden und sich auf den eigenen Geist, die eigenen Gefühle und Empfindungen zu konzentrieren. „Meditation ist eine der ältesten Kulturtechniken der Welt“, sagt Korte.

So gesehen sei ein Langstreckenflug ein hervorragender Anlass, auf Ablenkungen zu verzichten. „Man könnte aber auch mal wieder richtig lange und konzentriert lesen. Oder Ideen aufschreiben, die einem in der Langeweile kommen.“ Die Langeweile nur als zu ertragendes Übel zu betrachten und den einmaligen Erfolg der Willenskraft darüber zu feiern, helfe eher weniger. Womöglich werde die Langeweile dann noch negativer eingeordnet. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, uns langfristiger mit Dingen zu beschäftigen und uns währenddessen nicht so leicht ablenken zu lassen, meint Korte.


Quellen:

  • Wu R, Ferguson A M, Inzlicht M: Do humans prefer cognitive effort over doing nothing?. https://doi.org/... (Abgerufen am 20.08.2024)
  • Embrey J R, Mason A, Newell B R : Too hard, too easy, or just right? The effects of context on effort and boredom aversion . https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 20.08.2024)