Krebs bei Kindern: Hoffnung durch neue Therapiemethoden
![Enna sitzt auf einer Liege.](https://aqqkowuysp.cloudimg.io/v7/_auirp_/imgs/04/3/6/7/0/1/2/9/tok_a49289e49f754ed785a983cbfbe0d28d/w320_h160_x1250_y703_online_A1_5897-8d91cbe076de367d.jpg)
Enna erkrankte mit drei Jahren an einem Hirntumor. Dank moderner Therapiemethoden konnte der Krebs allerdings behandelt werden.
© U. Anspach/KiTZ
Eigentlich sollte Enna schon im Bett liegen, langsam schleicht sie sich aber noch mal ins Wohnzimmer. Es ist der erste Schultag nach den Osterferien. Die Siebenjährige freut sich, dass es wieder losgeht. „Ich habe ganz viele Lieblingsfächer“, erzählt sie. Ihre aktuellen Favoriten: Sport und Kunst. Dass Enna heute in die erste Klasse gehen kann, war vor ein paar Jahren kaum abzusehen. Damals plagten sie immer wieder starke Kopfschmerzen und Übelkeit. Die Erstdiagnose kindliche Migräne erwies sich ein halbes Jahr später als falsch.
Als ihr Kopf plötzlich ungewöhnlich groß wurde, folgte eine Magnetresonanztomographie (MRT) – und die traurige Gewissheit: Enna hat einen Hirntumor. Dadurch hatte sich Hirnwasser angesammelt. „Ich dachte, das geht nicht, das kann einfach nicht sein“, beschreibt Mama Daniela den Schock. Für diesen Artikel hat die Familie darum gebeten, dass wir hier nur ihre Vornamen nennen, um Ennas Privatsphäre zu schützen.
Hirntumore als zweithäufigste Krebsart bei Kindern
Ennas Hirntumor gehört zu den Krebserkrankungen des zentralen Nervensystems. Sie sind nach Blutkrebs die zweithäufigste Krebsart im Kindesalter. „Insgesamt ist Krebs bei Kindern sehr selten“, betont Prof. Angelika Eggert, Direktorin der Klinik für Pädiatrie und Onkologie an der Berliner Charité. Pro Jahr erkranken hierzulande etwa 2300 Kinder an Krebs. Zum Vergleich: Bei Erwachsenen sind es 500 000. Auch sonst haben kindliche Tumoren wenig mit denen von Erwachsenen gemein. Krebs bei Kindern entsteht durch genetische Veränderungen im Gewebe, nicht infolge eines ungesunden Lebensstils oder durch Umweltfaktoren. „Bei Kindern hatte die Umwelt noch gar keine Zeit, zu wirken.“
Etwa 80 Prozent der Kinder können geheilt werden
Das ist ein Vorteil für die Therapie: „Die kindlichen Organe sind noch nicht vorgeschädigt und vertragen vergleichsweise hohe Chemotherapiedosen“, erklärt Eggert. Und noch eine Besonderheit erweist sich als vorteilhaft. „Die meisten Krebsarten bei Kindern wachsen sehr schnell – und Chemotherapie wirkt überall dort gut, wo sich Zellen schnell teilen.“
Zusammen mit strukturellen Entwicklungen in der Kinderonkologie hat das zu immer besseren Überlebenschancen geführt: Etwa acht von zehn Kindern können heute geheilt werden. Bei einzelnen Krebsarten sei die Heilungsrate aber immer noch gering, sagt Eggert, die selbst an einer Krebsform mit teilweise schlechten Heilungschancen forscht. Ihr ehrgeiziges Ziel: Kein Kind soll mehr an Krebs sterben müssen.
Veränderungen in der Familie
Als Ennas Papa Christoph ein MRT-Bild von ihrem Gehirn sieht, bricht für ihn eine Welt zusammen. „Da war fast überall Tumor“, erinnert er sich. 200 Milliliter bösartiges Gewebe hatten sich im Kopf der damals Dreijährigen ausgebreitet. Eine viermonatige Chemotherapie sollte den Tumor zunächst verkleinern. Während die Eltern die ständige Sorge um das Leben ihrer jüngsten Tochter zermürbt, ist Enna in der Klinik meist gut gelaunt und fühlt sich wohl. „Sie hat es geliebt, dort mit uns zu kuscheln, zu spielen, zu basteln“, erzählt Mama Daniela. Für die ganze Familie ändert sich das Leben radikal. Daniela bleibt das erste Jahr zu Hause, auch Christoph nimmt sich die ersten Monate frei. Ennas zwei Jahre ältere Schwester Luisa muss viel zurückstecken. Aber Enna zuliebe macht sie das gern.
Eine Therapie der ganzen Familie
Wie belastend die Krebsdiagnose eines Kindes für die ganze Familie ist, erlebt Kinderonkologin Angelika Eggert in ihrer täglichen Arbeit. „Das ist immer eine Therapie der ganzen Familie“, sagt die Expertin. Eltern erlebten eine solche Situation oft als Kontrollverlust. „Bisher konnten sie ihr Kind vor allem schützen, plötzlich müssen sie sich auf fremde Menschen verlassen“, sagt Eggert.
In den Kinderonkologien gibt es deshalb immer psychosoziale Teams, die sich von Anfang an um die Familien kümmern. Halt und Unterstützung finden Christoph und Daniela vor allem bei ihren Freunden und Familien. „Wir sind von Anfang an sehr offen mit dem Thema umgegangen“, erzählen sie. In einer WhatsApp-Gruppe halten sie ihr Umfeld auf dem Laufenden. „So mussten uns nicht alle ständig nach Enna fragen – und wir mussten nicht alles noch mal erzählen. Das hat gutgetan.“
Hoffnung nach Operation
Die Chemotherapie bringt nicht den erhofften Erfolg. Die Eltern holen sich eine Zweitmeinung ein – und entscheiden sich, Enna in der Berliner Charité operieren zu lassen. Elf Stunden dauert der komplizierte Eingriff, dann kann die Familie endlich aufatmen: Über 90 Prozent des Tumors konnten entfernt werden, Enna hat die Operation gut überstanden. Langsam geht es wieder bergauf.
Doch solange sich noch Krebszellen in Ennas Gehirn befinden, besteht die Gefahr, dass der Tumor wieder wächst. Kommt er zurück oder schreitet er trotz intensiver Therapie weiter fort, stehen die Chancen auf Heilung bislang schlecht, sagt Prof. Olaf Witt, Direktor des Hopp-Kindertumorzentrums (KiTZ) in Heidelberg. Bisherige Therapien sind dann meist ausgereizt. Witt und sein Team suchen daher nach neuen Wegen. Im Rahmen der INFORM-Studie führen sie aufwendige Erbgutanalysen von kindlichen Tumoren durch. Ihr Ziel: „Eine Schwachstelle des Tumors finden, die sich mit Medikamenten angreifen lässt“, erklärt Kinderonkologe Witt.
Den Tumor ganz gezielt angreifen
In Absprache mit den behandelnden Ärztinnen und Ärzten wird auch Enna in die Studie aufgenommen. Wenig später erhält Papa Christoph einen Anruf aus Heidelberg: „Sie haben einen Sechser im Lotto.“ Bei Ennas Tumor wurde tatsächlich eine Schwachstelle gefunden, samt passendem Medikament. Damit kann Enna auf eine Bestrahlung verzichten, die – gerade in so jungen Jahren – oft mit schweren Spätfolgen einhergeht. Der Familie wird geraten, zunächst abzuwarten, ob der Tumor überhaupt wiederkommt.
Das ist immer eine Therapie der ganzen Familie. Bisher konnten sie ihr Kind vor allem schützen, plötzlich müssen sie sich auf fremde Menschen verlassen
Ein Jahr ist Ruhe, dann werden neue Krebszellen in Ennas Gehirn entdeckt. Fortan nimmt Enna morgens und abends das Medikament – ihren „Zaubersaft“, wie sie ihn nennt. Schmecken tut er ihr zwar nicht, aber er wirkt: Schon nach wenigen Monaten ist der Tumor kleiner geworden, nach eineinhalb Jahren ist er nun bereits auf ein Drittel seiner ursprünglichen Größe geschrumpft. Nebenwirkungen hat Enna kaum. „Enna bleibt bei uns! Das ist alles, was zählt“, sagt Christoph.
Noch kein großer Durchbruch bei medikamentöser Therapie
Kinder wie Enna profitierten von solchen zielgerichteten Medikamenten enorm, sagt Witt. Deshalb sei es wichtig, solche Fälle zu finden. Der große Durchbruch sei damit aber noch nicht gelungen, insgesamt funktionierte die Therapie nur bei fünf bis zehn Prozent der Kinder, ordnet Witt ein.
Ein zweiter, vielversprechender Ansatz seien Immuntherapien. „Dabei richten sich Antikörper gegen bestimmte Oberflächenmerkmale einer Krebszelle“, erklärt Witt. Bei einer neuen Form der Immuntherapie – der CAR-T-Zell-Therapie – werden körpereigene Immunzellen im Labor gentechnisch scharf gestellt, sodass sie lernen, Krebszellen zu finden und abzutöten. Eingesetzt werden sie vor allem bei bestimmten Leukämieformen. Mit Erfolg: „Sie wirken bei vielen der Kinder, denen wir vor fünf Jahren nichts mehr hätten anbieten können“, sagt Angelika Eggert.
Ein Vorteil der modernen Therapien ist auch: Sie sind schonender als Bestrahlung oder Chemotherapie und helfen so, Spätfolgen zu verhindern. Damit noch mehr Kinder davon profitieren können, braucht es weitere Forschung. Doch der Markt für Kinder sei klein, sagt Witt: „Pharmaunternehmen entwickeln Krebsmedikamente in erster Linie für Erwachsene.“ Zudem erschwerten hohe regulatorische Auflagen die Umsetzung von klinischen Studien. Mitte 2026 zieht das KiTZ in ein neues Gebäude – „dann arbeiten Forschung und Klinik unter einem Dach“, so Witt.
Noch ist ungewiss, ob Enna mit dem Medikament vollständig geheilt werden kann. Vorerst ermöglicht es der Erstklässlerin ein weitgehend normales Leben. Sie spielt Tennis, lernt gerade Schwimmen – alles in ihrem Tempo. Mama Daniela spricht aus, was sich die Familie am meisten wünscht: „Dass der Zaubersaft den Tumor irgendwann ganz auflöst – und Enna krebsfrei ist.“