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Für zufällig vorbeikommende Ausflügler ein besonderer Anblick: Da geht eine Gruppe Menschen mit einer Gruppe Schafe spazieren, auf Waldwegen, über Wiesen. Die Tiere werden von einigen sogar an der Leine geführt. Gassi gehen mit Schafen? Macht man das jetzt so in Freiburg? Ja, aber mit wissenschaftlicher Expertise.

Die beiden Gruppen aus Menschen und Schafen bilden zusammen eine Herde. Eine Therapie- und Achtsamkeitsherde. Angeleitet wird sie von Prof. Dr. Elisabeth Schramm. Sie ist klinische Psychologin und Psychotherapeutin am Universitätsklinikum Freiburg. Die Schafe stammen vom Tierpark Mundenhof. Was die Wissenschaftlerin herausfinden möchte: Inwieweit helfen die Vierbeiner seelisch erkrankten Menschen beim Genesen?

„Den Schafen ist es egal, was ich bin“

Wie die Schafe so ruhig auf der Koppel stehen, mögen sie für Laien alle gleich aussehen. Nicht so für Käthe Renner*, 67. Mit dem Finger zeigt sie auf eines der Tiere: „Das ist Flecki. Sie ist die Älteste und hatte bei ihrer Geburt einen weißen Fleck auf dem Kopf. Daneben steht Barney, der Verschmusteste in der Gruppe. Und Lotte will am liebsten immer fressen.“ An ihrer liebevollen Beschreibung ist spürbar, wie sehr Renner die Tiere mag.

Auch von deren heilsamer Wirkung ist die Kursteilnehmerin aus Dresden überzeugt. Seit Jahrzehnten leidet sie an Depressionen, hat mehrmals Psychotherapien gemacht. Doch geheilt ist sie nicht. Das Gefühl von Schwere und Niedergeschlagenheit kehrt immer wieder zurück.

Eine Anzeige des Universitätsklinikums Freiburg machte Renner neugierig. Gesucht wurden Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer, die bei einem Achtsamkeitskurs mit Schafen mitmachen wollen. So kam sie in Elisabeth Schramms Gruppe. Eine Entscheidung, über die Käthe Renner bis heute froh ist. Sie beschreibt, warum: „Durch die Schafe konnte ich ein Gruppengefühl entwickeln. Ich passe selten in eine Gruppe rein. Ich bin immer irgendwie was anderes. Den Schafen ist es egal, wie ich aussehe, was ich bin, was ich rede.“

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Tiertherapie ist keine eigenständige Therapieform

Zugehörigkeit hatte Renner bis zu diesem Moment nie erlebt. Aufgewachsen in der DDR, blieb sie während ihrer Jugend eher eine Außenseiterin. Die Eltern hatten sie und ihre Geschwister christlich erzogen, was im sozialistischen Staat sehr ungewöhnlich war: „Ich war nie in einer DDR-typischen Jugendorganisationen, bin immer außen vor geblieben bei solchen Sachen. Abitur durfte ich auch nicht machen. Aber ich habe das alles einfach so hingenommen.“ Warum die Depressionen dann gekommen sind? Darauf hat Renner für sich bis heute keine Antwort gefunden.

Tiergestützte Therapie ist keine eigenständige Therapieform – sei sie nun mit Schafen wie in Freiburg, mit Pferden, Hunden oder Alpakas. Sie gilt vielmehr als Ergänzung. Das Tier wird als Unterstützung hinzugenommen. Einsatz finden solche Therapien in der Logopädie, Ergotherapie, Physiotherapie oder in der Psychotherapie. Elisabeth Schramms Achtsamkeitskurse mit den Schafen richten sich an depressive Patientinnen und Patienten mit frühen Traumatisierungen. Menschen, die als Kinder und Jugendliche eine schwere seelische Verletzung erlebt haben und noch immer darunter leiden.

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Kontakt zu Schafen kann Stress minimieren

Emotionale Vernachlässigung, körperlicher, seelischer oder sexueller Missbrauch sind Formen von frühen zwischenmenschlichen Traumatisierungen. Betroffene haben deshalb oft wenig Vertrauen in andere Menschen und große Angst vor Zurückweisung. Vielen falle es außerdem schwer, die Aufmerksamkeit auf sich selbst nach innen zu richten, erklärt Schramm: „Weil dann Erinnerungen kommen, die sie schlecht aushalten.“

Durch den Kontakt zu den Schafen in freier Natur möchte die Psychotherapeutin einen Schutzraum schaffen, der die Teilnehmenden erdet. Natur senke nachweislich Stress, der Kontakt zu den sanften, friedfertigen Pflanzenfressern sei beruhigend und reduziere Angst. So werde eine Umgebung geschaffen, in der sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kurse besser öffnen können.

Bei der ersten Begegnung treffen sich alle Beteiligten auf einer Wiese. Die Schafe bleiben vorerst auf ihrer Weide, durch einen Zaun getrennt von den Menschen. Heute soll es in der zweieinhalbstündigen Sitzung darum gehen, dass sich die Leute im Kurs gegenseitig kennenlernen. Zuerst stellen sich alle vor. Sie erzählen, wie sie in die Gruppe gekommen sind und warum sie hier sind. Dann leitet Schramm schon die erste Achtsamkeitsübung an. Die Männer und Frauen sollen sich gewahr werden, wie sie sitzen, ob sie vielleicht aufgeregt oder angespannt sind. Sie sollen gar nichts verändern oder korrigieren, einfach nur den Ist-Zustand wahrnehmen und erspüren.

Elisabeth Schramm (2.v.l.) erklärt Kursteilnehmerinnen, worauf es bei den Achtsamkeitsübungen ankommt.

Elisabeth Schramm (2.v.l.) erklärt Kursteilnehmerinnen, worauf es bei den Achtsamkeitsübungen ankommt.

Im Hier und Jetzt leben

Das Therapieverfahren der Psychotherapeutin ist an die „Mindfulness-Based Cognitive Therapy“ angelehnt, ein wissenschaftlich anerkanntes Achtsamkeitskonzept, das ambulant und in Kliniken eingesetzt wird. „Achtsamkeit heißt absichtsvoll mit der ganzen Aufmerksamkeit im Moment sein. Also nicht in der Vergangenheit und nicht in der Zukunft. Sondern nur in dem Moment präsent“, so die Expertin. Ein erster wichtiger Schritt, um zu sich selbst zu finden. So können auch unterdrückte Gefühle wieder spürbar gemacht werden.

In der zweiten Sitzung darf die Gruppe mit den Schafen auf Tuchfühlung gehen. Die Tiere strahlen eine einladende Ruhe aus. Wer sich allerdings zu hektisch nähert, bekommt die Fluchttiere kaum zu fassen. Und während die ersten Teilnehmenden schon ihre Hände im weichen Fell vergraben, sind die anderen noch mit gutem Zureden beschäftigt und damit, sich selbst zu beruhigen. Denn auch mit den Tieren gelte der achtsame Umgang, betont Schramm: „Viele Menschen haben die Tendenz, sich am Tier zu versorgen. Sie gehen hin und wollen es streicheln, unabhängig davon, ob das Tier das auch möchte. Aber in unserem Kurs geht es darum, ein Gefühl für die Bedürfnisse der Tiere in Zusammenhang mit sich selbst zu entwickeln.“

In unserem Kurs geht es darum, ein Gefühl für die Bedürfnisse der Tiere in Zusammenhang mit sich selbst zu entwickeln

Schafe schenken ihr Vertrauen

Nach der Annäherung geht es gemeinsam auf Tour. Dafür bekommen die Schafe Halsbänder und werden zunächst angeleint. Dann gehen sie später auch ohne Leine bereitwillig überall mit. „Wenn du natürlich nicht präsent, sondern mit dir selbst beschäftigt bist oder noch mit dem Nachbarn quatschst, dann spüren die Schafe das und reagieren darauf. Sie übernehmen dann selbst die Führung“, so Schramm. Doch über kurz oder lang finden alle Beteiligten, ob auf zwei oder vier Beinen, ihren Platz – sei es vorneweg, in der Mitte oder als Schlusslicht.

Schafe sind Herdentiere und sehr sozial. Beim Fressen drängelt keines das andere ab. Sie passen ihr Tempo an, bleiben beieinander. Dieses rücksichtsvolle und integrierende Verhalten überträgt sich auch auf die beteiligten Menschen, so die Psychotherapeutin: „Jede und jeder gehört dazu und ist hier sicher.“

Das Schönste und Erstaunlichste für Studienleiterin Schramm ist, dass die Tiere es merken, wenn jemand emotional aufgewühlt ist. Dann kommen sie, stupsen dich an oder legen sich vielleicht sogar neben dich. „Das habe ich selbst einmal erlebt“, erinnert sich Schramm. „Ich war sehr traurig. Das Schaf hat mich getröstet und geerdet und mir Sicherheit gegeben.“ Ronja Tauber*, 32, eine weitere Teilnehmerin des Achtsamkeitskurses, kann das nur bestätigen: „Es fühlt sich toll an, wenn ein Schaf auf dich zukommt und dich berührt. Man spürt dann das Vertrauen, das das Tier dir entgegenbringt.“

Das Gefühl, nicht genug zu sein

Tauber ist eine zurückhaltende Frau, dabei aber ausgesprochen freundlich. Die Verbundenheit zu den Tieren ist bei der Freiburgerin spürbar. Sanft streicht sie mit ihren Fingern über das Fell eines vorbeikommenden Schafs: „Das ist Maggie. Sie ist so mutig. Wenn die anderen Schafe bei einer Abbiegung zögern, geht sie voraus. Dabei ist sie eine der Jüngsten in der Gruppe.“ Ähnlich wie Käthe Renner hat auch Ronja Tauber schon Gesprächstherapien hinter sich. Die Erfahrung mit tiergestützter Therapie ist jedoch neu.

Durch die Schafe entwickelte ich ein Gruppengefühl. Es ist ihnen egal, wie ich aussehe, was ich bin, was ich rede

Auch Tauber hat mit Depressionen zu kämpfen. In ihrem Kopf wüten negative Glaubenssätze, die ihr einflüstern, sie sei wertlos, nicht gut genug, passe nirgends dazu. Durch die vorangegangenen Therapien habe sie schon gelernt, zu reflektieren und Kindheitserlebnisse heute aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Das alles spiele sich aber allein auf einer theoretischen Ebene ab, also vom Verstand her. Den Kontakt mit den Schafen in der Natur empfindet sie hingegen als praktische Erfahrung: „Ich bin hier in dem Moment. Ich kann mit allen Sinnen meine Umgebung erleben und das auch genießen. Ich kann ich selbst sein.“

Als Grundschulkind fühlte sich Tauber oft einsam. Ihre Mutter habe sie allein aufgezogen, viel gearbeitet. Da saß das Kind teils stundenlang allein zu Hause. Die anderen Kinder im Dorf wollten mit der neu Hinzugezogenen nichts zu tun haben. „Wir haben uns verabredet, aber dann haben sich die anderen Kinder versteckt. Vor mir versteckt. Kinder sind halt Kinder. Aber wehgetan hat es sehr“, erzählt Tauber. Aus Selbstschutz zog sie sich zurück, wurde immer verschlossener und fühlte sich wertlos. „Wenn es mir nicht gut geht, fühle ich noch heute diese negative Unruhe. Irgendwie kraftlos und leer. Auch seltsam gefühllos. Mit den Schafen komme ich zur Ruhe und finde Frieden in mir.“

Mit den Schafen komme ich zur Ruhe und finde Frieden in mir

Belastende Gefühle zulassen

Die Tiere sind Eisbrecher, ihr Herdenwesen schafft ein Gefühl von Miteinander. In Kombination mit den Achtsamkeitsübungen, die Kursleiterin Schramm immer wieder einschiebt, lernen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer, ihre belastenden Gefühle und Gedanken zuzulassen, anzunehmen und dann ziehen zu lassen. Zum Beispiel gebe es eine Übung, bei der jedes Gruppenmitglied etwas suchen soll, was es an seine Kindheit erinnert. Sie brächten dann vielleicht einen Stein, Stock oder ein Blatt mit – und kämen darüber ins Erzählen. „Manche sagen dann: Mein einziger sicherer Ort in der Kindheit war auf einem Baum. Nur dann konnte ich sehen, wenn mein Vater heimkam. Und auf diesen Baum kam er nicht hoch“, schildert Schramm.

Dann sei es Aufgabe aller anderen in der Gruppe, achtsam zuzuhören. Also gar nicht zu kommentieren oder zu bemitleiden. So könnten die Erzählenden ihre Erfahrungen und Gefühle überhaupt zulassen, in Worte fassen und verarbeiten. Dafür haben sie insgesamt neun Sitzungen unter Anleitung der Professorin.

Noch wenig aussagekräftige Daten zur Wirksamkeit

Seit 2011 forscht Schramm nun schon zur Wirksamkeit tiergestützter Therapien. Am Anfang stand ein Aufenthalt in den USA, wo sie erlebt hatte, wie erkrankte Menschen mithilfe von Pferden behandelt wurden. Sie dachte an die Schafe im Mundenhof, die sie schon ehrenamtlich betreut hatte. Diese waren ihrer Auffassung nach aufgrund der geringeren Größe und genügsamen, sozialen Art noch viel besser geeignet. Seitdem forscht sie unermüdlich.

Es gebe bereits sehr viele Studien zum Thema tier- und naturgestützte Therapien, sagt sie. Allerdings wenige, die tatsächlich aussagekräftig seien. „Wenn man eine seriöse, methodisch anerkannte Studie haben will, muss man wissenschaftliche Regeln einhalten“, erklärt die Psychologin. Sonst seien die Ergebnisse nicht nachvollziehbar.

Genau das ist es, worauf sie abzielt: eine wiederholbare, evidenzbasierte Methode im klinischen Kontext, die dank der Kraft von Schafen die Heilung psychisch erkrankter Menschen nachweislich verbessert. Was die Wissenschaftlerin jetzt schon festgestellt hat: „Wir haben weniger Kursabbrecher mit diesem Konzept. Weil die Tiere erden und halten.“ Lag die Quote der Abbrecher bei Achtsamkeitskursen ohne Schafe noch bei 30 Prozent, ist sie jetzt auf null bis maximal sechs Prozent gesunken. Fast alle machen bis zum Ende mit und haben dadurch eine höhere Heilungschance. Außerdem habe sich gezeigt, dass der zusätzliche Kurs langfristig besser wirke als eine alleinige herkömmliche Depressionsbehandlung mit Medikamenten oder ärztlichen Besuchen.

Klingt vielversprechend. Mit einem Haken: Tiergestützte Therapien sind oft keine Kassenleistung, müssen also selbst gezahlt werden. Es sei denn, man hat die Chance, an einer Studie wie der in Freiburg teilzunehmen.

*Name von der Redaktion geändert


Quellen:

  • Germain S, Wilkie K, Milbourne V, Theule J: Animal-Assisted Psychotherapy, A Meta-Analytic Review. Brill: https://brill.com/... (Abgerufen am 15.07.2024)
  • Jones M, Rice S, Cotton S: Incorporating animal-assisted therapy in mental health treatments for adolescents, A systematic review of canine assisted psychotherapy. Online: https://brill.com/... (Abgerufen am 15.07.2024)
  • Nieforth L, Craig E, Behmer V et al.: PTSD service dogs foster resilience among veterans and military families. Online: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/... (Abgerufen am 15.07.2024)
  • Schramm E: Tier- und naturgestützte Therapien bei psychischen Störungen. Online: https://www.oberbergkliniken.de/... (Abgerufen am 15.07.2024)