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Während Deutschland von der Spätsommersonne verwöhnt wird, ist der Braunbär in Skandinavien dabei, sich allmählich dick und fett zu fressen. Bis zu 20.000 Kalorien verputzt er jetzt täglich. „Er wird sich eine Höhle suchen und sich über mehrere Wochen langsam auf den Winterschlaf vorbereiten“, sagt Prof. Dr. Alexander Choukèr. „Die Körpertemperatur des Bären wird auf 32 Grad absinken, die Hormonausschüttung sich verändern“, so der Münchner Anästhesist. „Dadurch wird der Bär nach und nach weniger fressen und sich weniger bewegen. Sein Energieverbrauch wird um etwa 75 Prozent sinken.“

Studien zu Mechanismen des Winterschlafs

Choukèr erforscht in einem aktuellen Projekt für die Europäische Weltraumorganisation ESA die Mechanismen des Winterschlafs, den manche Tierarten nutzen, um widrigen Umweltbedingungen zu trotzen. Grundsätzlich forscht er im Bereich Weltraummedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in München und ist Mitglied im Beraterstab der European Space Agency. Eine seiner zentralen Forschungsfragen: Wie verhält sich das Immunsystem in Extremsituationen wie beispielsweise in der Antarktis oder eben im Weltraum?

Die Forschungsgruppe um Alexander Choukèr ist seit Langem an vielen internationalen Raumfahrt-Studien beteiligt. Mit seinem Team untersuchte er etwa, warum Astronauten nach ihrem Aufenthalt auf der ISS häufiger Allergien oder ungewöhnliche Immunreaktionen entwickeln. Auch an der Studie Mars 500 waren Alexander Choukèr und sein Team beteiligt. Für diese weltweite Forschungskooperation wurden sechs Freiwillige 520 Tage in einem Komplex isoliert eingesperrt – unter Bedingungen, die einem Hin- und Rückflug zum Mars möglichst nahekamen. Choukèr liebt Science-Fiction-Filme, wie beispielsweise Stanley Kubricks „2001: Odyssee im Weltraum“ oder „Passengers“. Die Vorstellung der Erkundung unseres Planetensystems und den Reisen dorthin fasziniert ihn.

Zustand während des Winterschlafs heißt Torpor

Winterschlaf ist für die Raumfahrt extrem interessant. Gelänge es, Menschen in den Winterschlaf zu versetzen, wäre ein bemannter Flug zum Mars in greifbarer Nähe. Die Astronauten und Astronautinnen könnten den etwa 260 Tage dauernden Flug im inaktiven Zustand überdauern. Die Crew würde bis zu 80 Prozent Wasser, Nahrung und andere Ressourcen sparen. Die Raumfahrenden würden in ihrem Schlaf – der gar kein Schlaf ist, sondern eine Art Inaktivitätsphase, die Torpor genannt wird – nicht einmal Lebenszeit verlieren.

Studien zeigen bei Tieren ein nur sehr verlangsamtes Altern während ihres Winterschlafs. Der Unterschied zwischen Schlaf und Torpor ist wichtig und schnell erklärt: Während des Schlafes ist der Stoffwechsel aktiv, Lebewesen verbrauchen Energie. Torpor ist ein Zustand mit extrem reduziertem Stoffwechsel. Murmeltiere etwa können im Winterschlaf ihren Stoffwechsel bis zu 95 Prozent reduzieren, ihre Temperatur liegt dann nur knapp über dem Gefrierpunkt. Torpor findet nicht nur im Winter statt. Madagassische Lemuren haben eine solche Ruhephase in der warmen Jahreszeit. Der australische Wasserfrosch überlebt die Dürrezeit, indem er sich tief im Schlamm eingräbt und in Torpor geht.

Zustand vor Geburt könnte Torpor ähneln

Braunbärinnen gebären während des Winterschlafs sogar. Die Bärin zehrt im Torpor von Fettreserven. Das Wasser in der Milch ist Abbauprodukt der Fettreserven. Ab und zu wacht die Bärin kurz auf, um ihre Jungen zu säugen und zu putzen. Im Frühjahr sind die Jungen dann schon für das Leben in der Wildnis ausreichend entwickelt. Bären sind besonders interessant, um die Mechanismen des Winterschlafs zu untersuchen. Denn von der Größe und vom Gewicht her stimmen junge Bären in etwa mit uns überein und auch beim Stoffwechsel gibt es Ähnlichkeiten.

Choukèr glaubt, dass im Prinzip auch der Mensch in Torpor versetzt werden könnte. Eine These von Forschenden des von der ESA unterstützten Expertenteams zu „Torpor and Hibernation“: Der Zustand von Menschen vor der Geburt ähnelt einem Torpor. Der Organismus ist noch in einem unreifen Zustand, der Stoffwechsel ist reduziert. Ein Indiz dafür ist die Herzfrequenz während der Geburt. Wird der Säugling auf seinem Weg durch den Geburtskanal nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt, fällt der Herzschlag rapide von etwa 200 Schlägen pro Minute auf 80 ab.

Bei geborenen Menschen würde der Herzschlag in extremen Situationen stark ansteigen. Je langsamer das Herz des Säuglings schlägt, desto geringer ist der Sauerstoffverbrauch, desto höher die Chance, dass der Säugling die Notlage während der Geburt unbeschadet übersteht. Auch Erkenntnisse aus dem Organstoffwechsel der Leber stützen die These, man könne Menschen in den Winterschlaf versetzen.

Ein Torpor wäre eine gute Vorbereitung, kritische Gesundheitszustände zu überbrücken, etwa nach Wiederbelebungen oder um sich von einer schweren Operation zu erholen.

Suche nach einem Weg zum Winterschlaf

Bleibt die Frage: Wie soll das gehen? Die Suche nach Antworten vergleicht Choukèr mit einem Puzzlespiel. Einem lösbaren. „Vielleicht sprechen wir hier von 20 bis 30 Jahren Forschungsarbeit.“ Noch ist das Grundlagenforschung. Aber: „Wir kennen mittlerweile Hirnareale, die daran beteiligt sind, einen Torpor zu erzeugen.“ In Studien seiner italienischen Kollegen ist es gelungen, bei Tieren, die normalerweise keinen Winterschlaf halten, einen torporähnlichen Zustand auszulösen – etwa durch Substanzen, die auf diese Hirnzonen einwirken. Oder per fokussiertem Ultraschall, der ebenfalls auf bestimmte Hirnareale gerichtet ist. Vergleichbare Versuche an Menschen gibt es bisher nicht. Bei ihnen ist es heute nur möglich, sie in ein künstliches Koma zu versetzen und sie leicht herunterzukühlen.

Mit einem echten Winterschlaf hat das wenig zu tun, denn der menschliche Stoffwechsel arbeitet weiter, der ganze Körper baut ab. Menschen in den Winterschlaf zu versetzen, wäre daher nicht nur auf einer Mission zum Mars ein entscheidender Vorteil. „Auch für die Medizin auf der Erde wäre das ein Gamechanger“, ist Alexander Choukèr sicher – „nicht nur in der Intensivmedizin. Ein Torpor wäre eine gute Vorbereitung, kritische Gesundheitszustände zu überbrücken, etwa nach Wiederbelebungen oder um sich von einer schweren Operation zu erholen.“ Mediziner könnten unter torporähnlichen Bedingungen auch Zeit gewinnen, um die unterschiedliche Empfindlichkeit von Tumorzellen und Nichttumorzellen gegenüber Chemotherapeutika zu untersuchen.

Viele offene Fragen

Das alles sind interessante, noch fast vollständig offene Forschungsfelder. An Projektideen mangelt es nicht, an Geld schon eher. „Unterstützungen dieser Forschung durch öffentliche Fördereinrichtungen, Stiftungen oder Unternehmen sind unerlässlich, um Fortschritte schneller zu erreichen“, sagt Alexander Choukér. Auch sind klinikinterne, deutschlandweite und internationale Kooperationen über alle Fachdisziplinen hinweg unerlässlich. Die Arbeit geht Choukér demnach nicht aus. Als nächstes werden er und sein Team in Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Universität in Örebro Blutproben von Braunbären aus Schweden analysieren.


Quellen: