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Professor Dr. Christian Drosten, 52, ist Arzt und Direktor der Virologie an der Charité in Berlin. Gemeinsam mit dem Investigativjournalisten Georg Mascolo, 59, hat er das Buch „Alles überstanden?“ über die Corona-Pandemie geschrieben. Im Interview mit der Apotheken Umschau sprechen die beiden über die Rollen von Wissenschaft, Medien und Politik während und nach dieser Zeit.

Viele Menschen verdrängen die Coronazeit. Die Politik duckt sich weg. Sie aber haben nicht lockergelassen und das Buch „Alles überstanden?“ geschrieben. Ist die Pandemie denn Geschichte?

Christian Drosten: Als Pandemie ist Corona Geschichte, als Infektionserkrankung nicht. Das Virus ist immer noch bei uns. Es verändert sich ständig, aber wir müssen nicht befürchten, dass wir wieder Kontaktmaßnahmen bekommen.

Ärgert Sie, dass kaum noch über die Pandemie diskutiert wird?

Georg Mascolo: Also vergessen kann ja auch was Heilsames sein für Menschen, die durch eine sehr lange und schwierige Zeit gegangen sind. Deswegen habe ich ein großes Verständnis dafür, dass Leute sagen: „Jetzt lass mich damit doch mal in Ruhe“. Staaten, also Regierungen, können sich diesen Luxus nicht leisten. Die müssen zwingend zurückschauen und herausfinden: „Was war gut? Was lief falsch? Was lernen wir daraus für das nächste Mal?“ Und das ist für uns ganz wesentlich der Impuls dieses Buches. Wir sagen, wir müssen reden.

Prof. Dr. Christian Drosten (r.) und Georg Mascolo (Mitte) im Gespräch mit Dr. Dennis Ballwieser (l.) und Tina Haase aus der Chefredaktion der Apotheken Umschau.

Prof. Dr. Christian Drosten (r.) und Georg Mascolo (Mitte) im Gespräch mit Dr. Dennis Ballwieser (l.) und Tina Haase aus der Chefredaktion der Apotheken Umschau.

Warum ist dieses Buch für Sie so wichtig, Herr Drosten?

Drosten: Für mich persönlich ist es eine Möglichkeit, auch noch mal ganz tief in die Dinge einzutauchen und alle Belege für die Ereignisse zusammenzutragen. Und gerade in heutigen Zeiten, in der Allerlei behauptet wird, ist eine klare Erinnerung wichtig.

Die Politik ist mit voller Wucht in die Pandemie geschlittert. Dabei gab es Katastrophenpläne. Was lief schief?

Mascolo: Die Wahrscheinlichkeit, dass uns eines Tages eine Pandemie heimsuchen würde, war bekannt. Auf allen Ebenen wurden Pläne geschrieben und Planspiele veranstaltet. Das Erstaunlichste ist, dass nichts von dem tatsächlich zum Einsatz kam. In keinem Pandemieplan findet man eine Rolle für die MPK, also die Beratungen der Ministerpräsidentinnen und -präsidenten mit der Kanzlerin.

Dass die MPK solche Macht bekam, war eher ein Zufall.

Mascolo: Genau. Eigentlich sollte eine Runde zum Thema Energiewende stattfinden. Dann war die Pandemie das Thema. Bei einer Gesundheitskatastrophe hat man eine besondere Situation, Bund und Länder sind zugleich zuständig. Es wurde ein Mechanismus gesucht, der es möglich macht, föderale und Bundeszuständigkeiten zusammenzuführen. Vor allem bei der Kanzlerin gab es den richtigen Impuls zu sagen, dass die Leute wahnsinnig werden, wenn sie das Gefühl haben, im Saarland gilt etwas anderes, als in Hamburg oder in Bayern.

Wirrwarr gab es trotzdem.

Mascolo: Dennoch war der Impuls, ein gesamtstaatliches Handeln möglich zu machen, richtig. Gut war auch, auf der höchsten politischen Ebene zu entscheiden. Nur wurde die Rolle der Parlamente zu lange nicht ausreichend beachtet. Und man verlor sich in einer unglaublichen Kleinteiligkeit. 17 exekutive Entscheidungsträger diskutierten, wie sie mit Friseuren und Nagelstudios verfahren.

Georg Mascolo kritisiert das Krisenmanagement in der Politik während der Corona-Pandemie.

Georg Mascolo kritisiert das Krisenmanagement in der Politik während der Corona-Pandemie.

Und über die lange Phase der Pandemie wurde auch nicht nachjustiert.

Mascolo: Das ist der Punkt. Man hätte fragen müssen: Wie muss das Krisenmanagement in der Politik aussehen? Und wie sollte auch die wissenschaftliche Beratung organisiert sein? Wir haben ja dann erlebt, dass jeder und jede mehr oder weniger ein eigenes Gremium gehabt hat auf Bundesebene, auf Landesebene. Man hätte die wissenschaftliche Beratung bündeln müssen, sagen müssen: das ist der Ort, an dem die neuesten Erkenntnisse geteilt werden und die vielleicht unterschiedlichen Positionen ausdiskutiert werden. Und dann halten wir die Empfehlungen schriftlich fest.

Wie bringt man denn wissenschaftliche Inhalte besser in die Politikberatung?

Drosten: Es gibt inzwischen einen Corona-Expertenrat und solche Räte sollte es bei künftigen Pandemien auch geben. Wenn die Politik diese Expertise bestellt, dann wird sie sie auch aufnehmen. Die Frage ist natürlich, wie sind dann solche Gremien besetzt. Und wer besetzt die? Ich bin der Meinung, dass die Wissenschaft das machen sollte. Denn die Politik kennt sich in der Wissenschaft nicht aus.

Viele hatten das Gefühl, dass sich die Wissenschaftler nicht einig waren.

Drosten: Tatsächlich sind in der Öffentlichkeit sehr stark einzelne Personen wahrgenommen worden, die bestimmte Haltungen vertreten haben. In der Wissenschaft, unter Leuten, die sich wirklich mit dem Problem beschäftigen, war die Situation aber anders. Wir hatten sehr schnell eine große Einigkeit, nicht nur in der Virologie und Epidemiologie, sondern auch darüber hinaus. Auch aus dem sozialwissenschaftlichen Bereich hatten wir etwa schon im März 2020 eine Stellungnahme der Leopoldina, die nicht dem widersprochen hat, was die Epidemiologen und Virologen gesagt haben.

Aber haben die Medien dann die falschen Experten befragt aus Ihrer Sicht?

Drosten: Naja, es wurde auch Personen, die nicht unbedingt die Hauptmeinung der Wissenschaft vertreten haben, in manchen Medien eine breite Bühne gegeben. Und dann hat sich das falsche Bild ergeben, dass da viel Uneinigkeit besteht in der Wissenschaft.

Bei diesem Thema ringen Sie in dem Buch miteinander.

Mascolo: Stimmt, weil Christian Drosten sagt, da gibt es einen Teil der medialen Berichterstattung, der dafür verantwortlich ist. Das akzeptiere ich, sage aber gleichzeitig, auch in der Wissenschaft ist nicht alles gut gelaufen. Für den Laien war nicht nachzuvollziehen: Was ist Mehrheits-, was Minderheitenmeinung unter Wissenschaftlern. Alles darf natürlich gesagt werden. Aber es muss eingeordnet werden.

Kann der Expertenrat, den es jetzt unter Olaf Scholz gibt, hier helfen?

Mascolo: Das ist die Hoffnung. Zusammensetzen, ausdiskutieren, eine Stellungnahme verfassen – möglichweise auch mit abweichenden Positionen. Das ist genau die Funktion und die Rolle, die Wissenschaft ausüben sollte.

Es gab Zeiten, da hatte ich das Gefühl, ich kann nicht ohne Mütze und Maske auf die Straße gehen

Herr Drosten, kaum jemand stand so im Fokus wie Sie? Wie kam es dazu?

Drosten: Das hat sich so ergeben, weil Coronaviren mein Forschungsthema sind. Ich habe zu der Zeit 20 Jahre steuerfinanzierte Forschung gemacht, also muss ich irgendwann auch dem Steuerzahler mal was zurückgeben. Dafür wird ja Forschung finanziert. Ich habe nicht gewusst, was mich da erwartet.

Sie sind auch angefeindet worden.

Drosten: Es gab Zeiten, da hatte ich das Gefühl, ich kann nicht ohne Mütze und Maske auf die Straße gehen. Da war es zum Glück Winter. Da habe ich das tatsächlich auch gemacht, und mich hat niemand erkannt. Ich habe mich gefragt, auf welcher Informationsbasis diese Anfeindungen passierten und da haben soziale Medien ihren Anteil. Da kursieren Infos, die einfach falsch und frei ausgedacht sind. Das Schlimme: Je spektakulärer und schlimmer das klingt, desto mehr Aufmerksamkeit macht das. Das ist gefährlich.

Es gibt eine Pflicht, staatliches Handeln nachvollziehbar zu machen.

Führte auch das Wirrwarr der Beratungen dazu, dass Zerrbilder entstanden sind?

Mascolo: Ja, ich habe nie verstanden, warum bei diesen historisch einmaligen MPK-Beratungen kein Tonband mitlief, kein anständiges Protokoll geführt wurde. Es gibt eine Pflicht, staatliches Handeln nachvollziehbar zu machen. Dieser Grundsatz ist schon während der Pandemie nicht ausreichend beherzigt worden.

Der Kampf um Transparenz hält an.

Mascolo: Man kann nur den Kopf schütteln. Da wird eine Anwaltskanzlei beauftragt für viel Geld auf 1000 Seiten Gründe zu finden, was man in den Protokollen des Robert Koch-Instituts noch schwärzen könnte. Es ist bis heute der Mechanismus, dass in praktisch allen Bereichen sich der Staat lieber verklagen lässt, selbst wenn er weiß, dass er diese Prozesse verlieren wird. Anstatt diese Transparenz freiwillig herzustellen.

Gibt es denn was zu verbergen?

Mascolo: Man merkt, dass es immer mal wieder zu Einschätzungen gekommen ist, die man heute kritisieren kann. Aber gibt es irgendwelche Staatsgeheimnisse, die man schützen müsste? Ich kenne keine. Aber man bedient beständig das Narrativ derjenigen, die sagen „Guck mal, die haben alle Angst“, die tun alles, um diese Zeit nicht aufarbeiten zu müssen. Und dieses Narrativ darf man nicht befördern. Man darf es ihnen auch nicht überlassen. Und für uns ist das ein ganz wesentlicher Impetus für dieses Buch gewesen, zu sagen, dann versuchen wir mal einen Schritt zu machen.

Herr Drosten, hätte es ihre Beratung der Politik verändert, wenn Sie gewusst hätten, da läuft ein Tonband mit.

Drosten: Nein, auf keinen Fall. Bei mir lief ja die ganze Zeit ein Tonband mit – der NDR-Podcast. Ich habe alles, was ich in der Politikberatung gesagt habe, auch in der Öffentlichkeit gesagt. In der Regel am selben Tag. Es war ja vor allem die Anfangszeit in der ersten Welle, als das sehr intensiv nachgefragt wurde.

Es gab ein einziges Vier-Augen-Gespräch zwischen mir und Frau Merkel

Sie haben auch die Kanzlerin beraten.

Drosten: Davon haben die Menschen, glaube ich, eine falsche Vorstellung. Es gab ein einziges Vier-Augen-Gespräch zwischen mir und Frau Merkel. Das war, bevor es überhaupt sehr brisant wurde. Schon in der ersten MPK waren wir eine Gruppe von drei Wissenschaftlern, die gleichzeitig beraten haben. Das fand immer am Beginn der MPK-Sitzungen in einem sehr kurzen Zeitfenster statt. Dann haben wir die Konferenz verlassen.

Für manche Entscheidungen gab es kein wissenschaftliches Fundament. Womit haben Sie sich unwohl gefühlt?

Drosten: Es gab für die meisten Maßnahmen durchaus ein epidemiologisches Fundament. Und wir haben das in Deutschland besonders gut gemacht, vor allem in der ersten Welle. Darum hatten wir unter den großen europäischen Industrieländern eine der geringsten Sterblichkeiten in der Bevölkerung. Man kann manche politische Maßnahmen kritisieren, aber da gab es Kompromisse und auch juristische Zwänge. Alles nicht mein Gebiet.

Christian Drosten sieht rückblickend für die meisten Corona-Maßnahmen ein epidemiologisches Fundament.

Christian Drosten sieht rückblickend für die meisten Corona-Maßnahmen ein epidemiologisches Fundament.

Was war dennoch Quatsch?

Drosten: Naja, die Pfeile auf dem Boden in Kaffeegeschäften etwa oder dass zeitweise ähnliche Kontaktbeschränkungen drinnen wie draußen galten, obwohl an der frischen Luft die Gefahr der Ansteckung viel geringer war.

Was ist mit den Schulschließungen?

Drosten: Das ist ein komplexes Thema. Da hat sich sehr viel Wissen weiterentwickelt. Fest steht: Die Schulschließungen waren effektiv im Verhindern der Infektion in der ganzen Bevölkerung. Genauso wie etwa das Homeoffice. Alles hatte aber auch seinen Preis. Und ich glaube, wenn heute gesagt wird, es war falsch, die Schulen zu schließen, dann heißt das, der Preis war zu hoch dafür. Das stimmt. Aber am Anfang der Pandemie war in der Diskussion weniger zu hören, dass Bildungs- und Biografieschäden bei Kindern entstehen. Man hatte Sorge um den Erhalt der Arbeitskraft und den Schutz der Großeltern. Und man wollte gleichzeitig auch Kinder schützen. Und heute wissen wir auch: Maßnahmen im laufenden Schulbetrieb hatten eine Wirkung. Etwa Digital-Unterricht und häufiges Testen. Hierzu sollte man nun bessere Voraussetzungen schaffen.

Ich hatte gehofft, dass die Ampel-Regierung den ersten Schritt geht

Wie sollte eine Aufarbeitung in der Politik aussehen?

Mascolo: Ich hatte gehofft, dass die Ampel-Regierung, die sich im Kern einig ist, ein Modell zu finden aus Bürgerräten plus Enquetekommission, den ersten Schritt geht. Jetzt ist jedenfalls erst einmal wieder nichts daraus geworden. Aber es ist zwingend, dieser Blick zurück muss sein. Ich finde es schade, dass wir inzwischen vergleichsweise viel Zeit verloren haben.

Müssen wir uns beeilen? Ist die nächste Pandemie am Anrollen?

Drosten: Wir kennen Kandidaten für Pandemie-Erreger. Es gibt Viren, die seit einigen Jahren bekannt sind und Gefahren darstellen, wie das MERS-Coronavirus, das im Mittleren Osten in Kamelen vorkommt und den Menschen infiziert. Auch H5N1 ist im Moment ein Thema. Da speist sich die öffentliche Diskussion vor allem aus der Unsicherheit. H5N1 ist ein Virus, das einen ganz neuen Übertragungsmechanismus erschlossen hat. Es verbreitet sich bei Kühen in den USA über das Euter. Das hat man vorher so nie gesehen. Und immer, wenn etwas neu ist und so nah am Menschen – wie in diesem Fall durch das Nahrungsmittel Milch – muss man sagen: Wir brauchen jetzt sofort alle Informationen. Staatliche Stellen müssen den Informationsstand verbessern und alles in die Wege zu leiten, um das Geschehen einzudämmen. Da muss dringend etwas geschehen.