Logo der Apotheken Umschau

Welch Highlight, wenn die ersten Milchzähne durchbrechen und es plötzlich weiß im Mund blinkt! Doch ein paar Biene-Maja- oder Feuerwehrmann-Sam-Zahnbürsten später steht auf einmal alles schief und quer im Mund … Hilfe! Was tun? Wen fragen? Abwarten?

Immer wieder kommt dann die sogenannte kieferorthopädische Frühbehandlung zur Sprache. Sie ist – im Gegensatz zu anderen europäischen Ländern – in Deutschland nach wie vor populär. Und dabei nicht unumstritten. Sie soll Fehlstellungen bei Kindern beheben, die gerade die neuen Schneidezähne und die ersten bleibenden Backenzähne bekommen haben. Im frühen Grundschulalter also. Ist das sinnvoll? Und wenn ja, in welchen Fällen?

Was spricht für eine kieferorthopädische Frühbehandlung?

Eine Frühbehandlung sollte wirklich nur dann vorgenommen werden, wenn das Wachstum des Kiefers beeinträchtigt ist, sich eine Fehlstellung verschlimmern würde oder später nur schwer zu behandeln wäre. Dies bestätigt auch ein Gutachten, das 2018 für das Bundesgesundheitsministerium erstellt wurde und in dem es heißt: „Die Frühbehandlung soll ausschließlich in Ausnahmefällen stattfinden.“ Damit sind sogenannte Fehlbisse gemeint – siehe unten. Oder aber auch Diagnosen wie die Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte, die Auswirkungen auf das Kauen, Sprechen, Schlucken oder sogar die Atmung haben können.

Laut der sechsten Deutschen Mundgesundheitsstudie von 2022, durchgeführt vom Institut der Deutschen Zahnärzte, hatten etwa 40 Prozent der teilnehmenden Kinder im Alter von acht und neun Jahren ausgeprägte bis extrem ausgeprägte Fehlstellungen, die eine Behandlung nötig machten. Doch wann? In einer Leitlinie aus dem Jahr 2021, die sich mit dem idealen Behandlungszeitpunkt für eine kieferorthopädische Intervention befasst, wird erwähnt, dass die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt „kontrovers diskutiert werde, vor allem bezüglich der Effizienz, der Belastung und dem Behandlungsaufwand“.

Wie schlimm sind schiefe Zähne?

Wenn ein einzelner Milchzahn wild im Mund steht, ist das im Kleinkindalter kein Grund zur Sorge – und auch keiner für eine Zahnspange, sagt Dr. Moritz Försch. Er ist Fachzahnarzt für Kieferorthopädie in Oppenheim, Mitglied des Bundesvorstandes im Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden und Befürworter der Frühbehandlung. Auch werde bei Zahnunfällen oder -verlust durch Karies eher selten kieferorthopädisch eingegriffen.

Oftmals stellt sich bei kleinen Kindern der Schnuller als Ursache für eine Fehlstellung heraus. „Bei Kindern, die über den zweiten Geburtstag hinaus einen Schnuller nehmen oder Daumen lutschen, liegt die Zunge mehr im Unterkiefer und rutscht beim Schlucken nach vorne zwischen die Zähne. Das kann Probleme mit sich bringen“, sagt Dr. Johanna Kant vom Bundesverband der Kinderzahnärzte in München. Dagegen führen Kritiker der Frühbehandlung an, dass Platzmangel und Engstände, vor allem der Schneidezähne, im Alter von sechs bis zehn Jahren noch völlig normal seien und ein Eingreifen daher noch nicht nötig sei.

Wie läuft die kieferorthopädische Frühbehandlung ab?

In der Frühbehandlung bekommen die Kinder in der Regel ein herausnehmbares Gerät. Damit würden Breite oder Länge des Zahnbogens beziehungsweise der Zusammenbiss von Ober- und Unterkiefer korrigiert, so Moritz Försch. Eine feste Spange begradige in einer zweiten Behandlungsphase die Zähne lediglich noch. Dafür müsse der Kiefer aber schon in die richtigen Bahnen gelenkt worden sein und dürfe nicht mehr weiter wachsen. Vielleicht verkürze sich die spätere Hauptbehandlung sogar durch das frühe Eingreifen. Oder mache sie sogar überflüssig.

Dagegen argumentiert Dr. Henning Madsen, Kieferorthopäde in Mannheim, dass die herausnehmbaren Zahnspangen von den Kindern gar nicht so viel getragen werden können, wie es nötig wäre. Viele der Behandlungen endeten daher mit schlechten Ergebnissen oder Misserfolgen. Natürlich gebe es auch in seiner Praxis seltene Befunde, die eine Frühbehandlung im Vor- oder Grundschulalter rechtfertigen, die in der Regel aber mit festsitzenden Apparaten gemacht wird. Dies betreffe jedoch „höchstens jedes 20. Kind“.

Wer zahlt die kieferorthopädische Frühbehandlung?

Die erste Anlaufstelle sollte immer die Zahnarztpraxis sein. Unter klar definierten Voraussetzungen übernehmen die gesetzlichen Krankenkassen die Kosten bei erheblichen Fehlstellungen – was genau als erheblich gilt, ist in einer Tabelle geregelt. Zunächst müssen Eltern trotzdem 20 Prozent der Gesamtkosten selbst tragen (wird zeitgleich ein Geschwisterkind behandelt, sind es zehn Prozent).

Wenn die Kieferorthopädin oder der Kieferorthopäde am Ende eine erfolgreich absolvierte Behandlung bescheinigt, bekommt man das gezahlte Geld zurück – daher sollte man Rechnungen und Unterlagen gut aufbewahren. Wichtig ist ebenfalls, dass man den behandelnden Ärztinnen und Ärzten vertraut und alle Termine wahrnimmt. Denn während einer Behandlung die Praxis zu wechseln, ist nicht einfach. Man muss gute Gründe haben und diese gegenüber seiner Krankenversicherung dann vertreten.

Ist eine Zweitmeinung zur kieferorthopädischen Frühbehandlung sinnvoll?

Bei Zweifeln oder einem unguten Gefühl sollte man unbedingt vor Behandlungsstart eine Zweitmeinung einholen. Und unbedingt kritisch nachfragen. Kieferorthopäde Henning Madsen aus Mannheim hält mit einer starken These auch nicht hinter dem Berg: Manche Aussagen seiner Kolleginnen und Kollegen zur kieferorthopädischen Frühbehandlung seien „leicht als von wirtschaftlichem Interesse geleitet zu durchschauen“. Denn die deutsche Gebührenordnung mache Behandlungen mit herausnehmbaren Zahnspangen etwa doppelt so profitabel wie mit festen Apparaten.

Wie erreicht man den bestmöglichen Erfolg?

Damit eine Spange schließlich tut, was sie soll, muss sie so häufig wie möglich getragen werden. Doch welches fünf- oder siebenjährige Kind mag beim Spielen mit anderen schon gern schwer zu verstehen sein, nur weil da dieses Ding im Mund steckt und sich überall Spucke sammelt? Wichtig ist also, dass den Eltern und auch dem Kind gut und plausibel erklärt wird, was genau das Problem ist und welche Folgen es haben kann, wenn man es nicht behandelt.

Der Erfolg hängt oft vom Mitmachen der Eltern und der Patientinnen und Patienten ab. Älteren Kindern oder Jugendlichen kann man die Lage jedoch eher verständlich machen – und desto besser kommen sie mit der Zahnspange klar.

Das sind die häufigsten Fehlstellungen

Starker Überbiss

Der Oberkiefer beißt so weit über den Unterkiefer, dass zwischen den oberen und unteren Zähnen knapp ein Zentimeter oder mehr Platz ist. Das kann an einer Fehlstellung der Zähne oder auch des Kiefers liegen. Die Folge: Der Mund schließt nicht richtig. Ein Überbiss kann dazu führen, dass die Seitenzähne beim Kauen nicht korrekt aufeinandertreffen. Das Risiko für Zahnschäden, zum Beispiel bei einem Sturz, ist hoch.

Bild

Unterbiss

Die unteren Schneidezähne liegen vor den oberen Frontzähnen. Kommt seltener vor als der Überbiss. Die Folge: Es kann zu Problemen beim Kauen und Beißen kommen.

Bild

Kreuzbiss

Vereinfacht gesagt beißen beim Kreuzbiss die Zähne von Unter- und Oberkiefer aneinander vorbei. Beispielsweise ist der Oberkiefer zu schmal.Dann fehlt später oben ausreichend Platz für die bleibenden Zähne.

Bild