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Die sonnengelbe Eingangstür, das vergnügte Schweinchen und die fröhliche Maus, die auf Wolken tanzen: Die helle, freundliche Atmosphäre kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass entlang dieses Flures der medizinische Kampf ums Überleben den Alltag prägt. Für viele Neugeborene und ihre Eltern beginnt in der Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin des Evangelischen Krankenhauses Hamm ein sehr schwerer, sehr langer Weg auf dem schmalen Grat zwischen Happy End und Trauer.

Versorgung von etwa 60 Frühgeborenen pro Jahr

Dr. Georg Selzer, Chefarzt der Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin des Evangelischen Krankenhauses Hamm.

Dr. Georg Selzer, Chefarzt der Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin des Evangelischen Krankenhauses Hamm.

Chefarzt Dr. Georg Selzer und sein Team aus elf Ärztinnen und Ärzten sowie 60 Pflegekräften begleiten sie dabei. Sie überwachen nicht nur Kinder nach einer Operation oder solche mit schwersten Brandverletzungen. Zusammen versorgen sie vor allem auch jedes Jahr knapp 60 viel zu früh geborene Kinder aus der nahen Umgebung bis ins Sauerland, manche von ihnen nur ein paar Hundert Gramm schwer.

Sein Team macht diesen schweren Job unglaublich gut, nicht nur intensivmedizinisch – daran lässt der Neonatologe und Kinderintensivmediziner Selzer keinen Zweifel: „Unser Team schafft es auch, die Eltern emotional gut aufzufangen.“ Vor allem für die Mütter sei es extrem wichtig, trotz des Schocks einer Frühgeburt möglichst rasch in die Situation zu finden, ihr noch nicht allein lebensfähiges Kind in einem der Inkubatoren zu sehen. Angeschlossen an Schläuche und Apparate, die die Bedingungen in der Gebärmutter imitieren.

Nur wenige gehen offen mit Fehlern um

Zugewandt, freundlich, erfahren: Der 62-jährige Selzer in seiner blauen OP-Kluft ist ein Kinderarzt, wie man ihn sich vorstellt. Einer, der für Kinder und Eltern da ist. Und hinter seinem Team steht. Zu seinem Selbstverständnis als Arzt, Mensch und Chef gehört es allerdings auch, über Fehler und Beinahe-Fehler zu sprechen – und aus ihnen zu lernen. Denn: Trotz aller Professionalität und Erfahrung passieren Fehler. In den allermeisten Fällen zum Glück ohne Schaden.

In Hamm kommt das genauso vor wie in jedem Krankenhaus zwischen Flensburg, Köln, Dresden und München. Doch nur wenige Ärztinnen und Ärzte gehen so offen damit um wie Selzer. Wo Menschen arbeiten, lauern Fehler. Zu den Klassikern in der Medizin zählen Kommunikationsfehler. Menschen schreiben falsch auf, hören falsch, lesen falsch, verstehen falsch, interpretieren falsch. Besonders leicht passiert das bei Schichtübergaben. Das ist nicht nur im westfälischen Hamm bekannt, sondern wissenschaftlich nachgewiesen.

Unser Team schafft es auch, die Eltern emotional gut aufzufangen

Fehlerkultur in Krankenhäusern enorm wichtig

Studien zeigen, dass neben der Kommunikation auch die Medikation enormes Fehlerpotenzial bietet. Profis verschreiben sich bei der Verordnung, verwechseln Medikamente, vergreifen sich beim Zusammenstellen, berechnen Dosierungen falsch, stellen Infusionen zu schnell ein, ziehen Spritzen falsch auf, geben Patienten und Patientinnen ein falsches Medikament oder die falsche Menge, stellen die Feuchtigkeit bei der Beatmung von Frühchen nicht richtig ein. Fehler mit potenziellen Folgen, die man sich nicht vorstellen möchte. Schon gar nicht bei schutzlosen Frühchen.

Aus Selzers Sicht sollten Mediziner und Pflegekräfte aber nicht nur die seltenen schweren Fehler verhindern, sondern sich genauso intensiv um kleine Fehler ohne Schaden oder Beinahe-Fehler kümmern: „Wir dürfen sie nicht verschenken, denn sie bieten die Chance, unser System zu hinterfragen und zu verbessern.“ Damit das gelingt, spielt in seiner Abteilung das Thema Fehlerkultur eine wichtige Rolle – und ein ganz gewöhnlicher Briefkasten. Zwar ist das gesamte Krankenhaus an das mittlerweile gesetzlich vorgeschriebene Online-Fehlerberichtssystem CIRS angeschlossen.

Diskussion von Fehlern in Teamkonferenzen

Doch findet der Chefarzt diese Informationen zu allgemein für seine Abteilung. Deshalb werfen die Ärztinnen, Ärzte, Pflegekräfte und der Chef selbst handgeschriebene Zettel in den silbernen Briefkasten, gut sichtbar platziert auf dem Weg zur Umkleide. Sie schreiben darauf, wobei ein Fehler passiert ist, fast passiert wäre oder sie eine heikle Situation miterlebt haben. Anonym und nach Möglichkeit mit einem Lösungsvorschlag. „Manchmal landen hier 20 Zettel im Monat, manchmal keiner“, sagt Selzer. Bewusst sichtet er die Fehler nicht selbst. Dafür sind eine der zuletzt zum Team gestoßenen Oberärztinnen und eine Pflegekraft zuständig.

Wir dürfen sie nicht verschenken, denn sie bieten die Chance, unser System zu hinterfragen und zu verbessern

In Fehlerkonferenzen präsentieren die beiden Frauen die Meldungen, das Team diskutiert Lösungen und trifft Entscheidungen, wie was warum in Zukunft anders gemacht wird. So wie die, noch konsequenter darauf zu achten, dass Spritzen immer in einem getrennten Raum ohne Trubel und im Vier-Augen-Prinzip vorbereitet werden. Oder ein streng geführtes Übergabebuch einzuführen, damit beim Schichtwechsel Infos nicht wie bei der Stillen Post verloren gehen. „Wir stellen uns immer die Frage: Wie konnte es in unseren Abläufen dazu kommen?“, sagt Selzer.

Aus Fehlern lernen

So wird aus einem diskutierten Fehler oder Beinahe-Fehler für alle im Team die Chance, künftig gemeinsam bessere Arbeit zu machen: „Eine gute Fehlerkultur schützt unsere kleinen Patienten.“ Doch statt wie hier auch anderswo die Abläufe, das System und die Strukturen zu hinterfragen, gehe es bis heute vor allem um persönliche Schuld: „Wie konntest du nur?“ Dabei befeuere die Furcht im Team, an den Pranger gestellt zu werden, das Wegschauen, Verheimlichen und Vertuschen.

Selzer macht sich keine Illusionen: Es sei nie einfach zu sagen, dies oder das ist mir passiert. „Das erfordert großen Mut.“ Genauso wie Vertrauen, dass Teammitglieder und Vorgesetzte damit gut umgehen, dass keine Sanktionen drohen. Denn auch wenn die Zettel anonym bleiben, sie sind schließlich von Hand geschrieben und lassen Rückschlüsse zu. Deshalb lebt die Kultur davon, dass er selbst sie vorlebt: „Ich kann mein Team nur darum bitten, dafür werben und selbst berichten, wenn ich mich geirrt habe.“ Das ist ihm nicht nur nach innen wichtig, sondern auch gegenüber den Eltern. „Wir müssen offen sprechen. Wir müssen schließlich alle damit leben, wenn ein Fehler passiert.“

Hygieneskandale sensibilisieren

Mütter und Väter, so Selzer, haben feine Antennen dafür, wenn etwas nicht stimmt. Sie werden misstrauisch, fragen nach. Die Spannung lasse spürbar nach, wenn das Team offen rede. Das sei völlig unabhängig davon, ob es anschließend zu einer juristischen Auseinandersetzung komme. Selzers erster eigener Fehler liegt lange zurück: Als Arzt im Praktikum legte er einem Kind eine Magensonde falsch. Das Kind erbrach wieder und wieder. Sein Oberarzt habe die Situation gerettet. Ein Schlüsselerlebnis? Nein.

Dafür gebe es keinen Zeitpunkt, es sei einfach seine Haltung. „Es ist klar, dass wir es machen müssen!“ Sicher hinterließen Erfahrungen wie der Hygieneskandal am Klinikum Bremen-Mitte, in dessen Zuge vor Jahren mehrere Frühchen starben und sein Chef gehen musste, Spuren und sensibilisierten zusätzlich.

Fehler schon im Medizinstudium thematisieren

Immer wieder kommt Selzer aber auch darauf zurück, wie wegweisend die Erkenntnisse in einem Projekt mehrerer norddeutscher Kinderkliniken waren, die vor knapp 20 Jahren ein Meldesystem testeten und gemeinsam Lehren aus über tausend Fehlerberichten zogen. Seither hat sich allerhand in deutschen Krankenhäusern geändert: mehr Standardisierung, mehr Checklisten, Simulationstrainings, verpflichtendes Fehlermeldesystem, mehr Digitalisierung. Die Wachsamkeit ist größer.

Doch hat sie auch eine Sicherheitskultur hervorgebracht, in der Teams an Fehlern wachsen können? „Längst nicht so, wie ich es mir wünsche“, sagt Selzer. Dafür brauche es in der Gesellschaft die Bereitschaft und schon in der Medizinerausbildung konkrete Anleitung, mit Fehlern und Unsicherheiten offen umzugehen. Bis das Alltag ist, werden Selzer und sein Team Vorreiter bleiben. Mit viel Mut. Und dem festen Willen, immer noch besser zu werden.