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Herr Dr. Allwang, welche typischen Fehler gibt es im Zusammenhang mit Medikamenten?

Martin Allwang: Ganz oben auf der Liste stehen Fehler bei der Dosierung sowie Wechselwirkungen, doppelte Verordnungen und Verwechslungen. Dabei können alle Menschen in der Kette, die mit Medikamenten zu tun haben, Auslöser sein: Mitarbeitende in Arztpraxen, Erkrankte, ihre Angehörigen genauso wie Personal in Apotheken und Pflegende.

Wie entstehen solche Fehler?

Allwang: Dosierungsfehler entstehen, weil die Dosis nicht passt. Wer im Alter eine schlechtere Nierenfunktion hat, braucht eine andere Wirkstoffmenge als ein junger, gesunder Mensch. Zu Wechselwirkungen kommt es, wenn Erkrankte mehrere Medikamente gleichzeitig einnehmen und diese sich nicht miteinander vertragen. Dahinter steckt oft, dass viele Menschen mehrere Fachärzte aufsuchen und diese von den Verschreibungen der anderen Praxis nichts erfahren. Ähnlich klingende Namen von Medikamenten führen schnell zu Verwechslungen.

Auch Doppelverordnungen sind ein Problem. Wie kann es dazu überhaupt kommen?

Allwang: Das passiert, wenn ein erkrankter Mensch zwei unterschiedliche Arztpraxen aufsucht. Dort bekommt er unter Umständen jeweils ein Rezept mit demselben Wirkstoff ausgestellt, der Handelsname ist aber ein anderer. So fällt es dem Betroffenen dann gar nicht auf, dass es sich um das gleiche Medikament handelt, und er nimmt die doppelte Dosis.

Das alles sind Fehler als Folge von Verordnungen. Lauern auch anderswo Fehlerquellen?

Allwang: Ja, natürlich. Zum Beispiel in Kliniken, wo auf der Station die Medikamentenmengen für morgens, mittags und abends zentral gepackt werden. Gibt es zwei Frau Meiers, dann birgt allein das schon eine Verwechslungsgefahr. Oder: Zwei Medikamente haben einen sehr ähnlichen Namen, sehr viele Pillen sind weiß, rund und gleich groß. Da ist enorme Sorgfalt und Kontrolle nötig, um hier Fehler zu vermeiden.

Wie sieht es in den Apotheken aus?

Allwang: Früher war die Handschrift von Ärzten auf den Rezepten eine große Fehlerquelle. Mit den gedruckten Rezepten ist das entscheidend besser geworden. Außerdem ist es Pflicht, die Tagesdosis auf dem Rezept anzugeben. Das sichert mit ab, dass die Mitarbeitenden in den Apotheken genau das herausgeben, was auf dem Rezept steht. Weil wir als Apotheker und Apothekerinnen gesetzlich zur Beratung verpflichtet sind, dürfen Patienten sie auch erwarten – und sei es nur die kurze Nachfrage, ob das Medikament bekannt ist. Wenn jemand wortlos ein Medikament überreicht bekommt, sollte er oder sie die Apotheke wechseln.

Welche Probleme haben Erkrankte selbst beim Einsatz ihrer Medikamente?

Allwang: Bei Patientinnen und Patienten steht die falsche Einnahme auf den vorderen Plätzen der Medikationsfehler. Für den Behandlungserfolg sind aber auch das Vergessen bei der Einnahme und die nachlassende Therapietreue wichtige Faktoren.

Ist es denn wirklich so dramatisch, ob ich meine Tablette eine Viertelstunde vor oder nach dem Essen einnehme, mal eine Pille vergesse oder weglasse?

Allwang: Das kommt auf das Medikament und die Schwere des Fehlers an. Bei einem Blutdrucksenker sind vielleicht beim einmaligen Vergessen die Werte an dem Tag nicht so gut. Es droht aber nicht unbedingt sofort der Schlaganfall. Nimmt man das Schilddrüsenhormon nicht nüchtern ein, verliert es seine Wirkung. Beim Antibiotikum gilt: Jede Dosis zählt. Also hat das Weglassen eine direkte Folge. Für Laien ist es praktisch unmöglich, einzuschätzen, wie schwer die Folgen von Medikationsfehlern sein können.

Viele, aber längst nicht alle Medikamente werden in Pillenform verabreicht. Wie ist die Situation zum Beispiel bei Sprays oder Salben?

Allwang: Fachleute bezeichnen Sprays, Salben, Zäpfchen oder Therapiepflaster als erklärungsbedürftige Medikamente. Das sind Mittel, bei denen bei der Anwendung mehr zu tun ist, als einen Schluck Wasser dazu zu trinken. Als potenzielle Fehlerquelle haben sie eine enorme Bedeutung. Beim Asthmaspray zum Beispiel kommt es auf den exakten Einsatz des Inhalators an. Ein Therapiepflaster muss an der richtigen Stelle aufgeklebt sein, um die volle Wirkung zu entfalten. Bei zu viel Hitze dagegen gibt es zu viel Wirkstoff ab.

In Deutschland gehen laut Statistik jedes Jahr eine Viertelmillion Krankenhauseinweisungen auf Medikationsfehler zurück. Wie hoch ist die Dunkelziffer?

Allwang: Sehr hoch, denn enorm viele Medikationsfehler werden nie statistisch erfasst werden. Zwar gibt es mittlerweile Stellen, die Medikationsfehler erfassen. Doch tauchen dort nur die Fälle auf, bei denen ein direkter Zusammenhang zwischen dem Medikationsfehler und seiner Folge klar wird. Ein Beispiel: Ein älterer Mann nimmt sein Medikament in der falschen Dosierung ein, stürzt daraufhin, bricht sich den Oberschenkelhals und landet in der Klinik. Beim Aufnahmegespräch fällt der Fehler auf. Nimmt jemand seine Blutdruckmedikamente nicht und bekommt einen Schlaganfall, dann erfasst keine Statistik den dahinterliegenden Medikationsfehler.

Welche Fehler ließen sich leicht vermeiden, welche schwerer?

Allwang: Wer große Angst vor einem Schlaganfall oder Herzinfarkt hat, wird seine Medikamente sehr regelmäßig einnehmen. Diese Gewissenhaftigkeit – und damit das Vermeiden von Fehlern – ist aber nur auf den ersten Blick sehr leicht. Denn je länger Menschen Medikamente nehmen müssen und je mehr an der Zahl, desto schwerer fällt Betroffenen erwiesenermaßen diese Therapietreue. Hinzu kommt, dass viele Medikamente in ihrer Handhabung für junge, gesunde Menschen gemacht sind. Wer schlecht sieht, bekommt nur mit Mühe exakt 20 Tropfen auf einen Löffel geträufelt. Rheuma-Patienten bekommen die Pillen schwer aus der Packung gedrückt. Vielen Menschen fällt es schwer, dann um Hilfe zu bitten. Es ist ihnen peinlich.

Nicht nur solche Dinge, sondern auch die richtige Einnahme und Anwendung bergen offenbar Probleme. In Ihrem Buch „So wirkt’s“ schildern Sie mögliche Fehler und geben Verbraucher-Tipps, wie es richtig geht. Geht wirklich so viel schief?

Allwang: Es ist erstaunlich, wie viel man bei scheinbar einfachen Dingen falsch machen kann und welche Folgen das haben kann. Zum Beispiel: Wer viele Tabletten nehmen muss, sollte nicht alle auf einmal mit einem einzigen Schluck Wasser nehmen, denn das verträgt der Magen schlecht. Auch ist es zum Beispiel wichtig, Tabletten in aufrechter Position zu schlucken, damit sie nicht in der Speiseröhre stecken bleiben. Das alles klingt banal, es ist aber nicht banal. Denn falsch angewendete Medikamente können zu Schäden führen, zum Beispiel die Schleimhaut angreifen oder ihre Wirkung verlieren.

Eigentlich liefern die Beipackzettel doch genaue Informationen zur Einnahme …

Allwang: Ja, aber Patientinnen und Patienten fürchten sie. Und das zu Recht. Denn der Beipackzettel mit seinen juristischen Informationen und Fachausdrücken für Ärzte- und Apothekerschaft ist keine gute Patienteninformation. Wir bräuchten stattdessen verständliche Patienteninformationen, die den Nutzen der Anwendung und die richtige Anwendung verständlich erklären.

Überall da, wo Menschen mit Medikamenten zu tun haben, können Fehler passieren. Wer kann wo ansetzen?

Allwang: Zunächst einmal müssen alle Berufsgruppen gemeinsam eine Kultur etablieren, überhaupt offen über Fehler zu sprechen. Wo eine solche offene Kommunikation herrscht, werden Rückfragen als Unterstützung und nicht als Vorwurf verstanden. So entsteht eine Sicherheitskette, in der jede Nachfrage hilft, Entscheidungen zu überprüfen und Fehler zu vermeiden. In der Versorgung vor Ort funktioniert das oft schon gut, zum Beispiel bei Nachfragen von Apotheken zur Verordnung in der Arztpraxis.

Wo funktioniert es weniger gut?

Allwang: Auf der Funktionärsebene. Ärzteverbände suggerieren überwiegend noch das Bild des fehlerlos arbeitenden Arztes. Wir müssen dafür sorgen, dass Heilberufe Hand in Hand arbeiten. Dafür gibt es auch Beispiele guter Praxis in Projekten zwischen Ärzteverbänden und Apothekerkammern, die nachweislich gute Ergebnisse gebracht haben. Doch ist der Nutzen dieser Zusammenarbeit nicht öffentlichkeitswirksam vermittelt worden, sodass die Ergebnisse wieder in der Versenkung verschwunden sind.

Kann die Apothekerschaft bei der Prävention über das persönliche Gespräch und die Zusammenarbeit mit Verordnenden hinaus einen Beitrag leisten?

Allwang: Ja, auf jeden Fall. Denn die Apotheke hat als Anlaufstelle den Überblick und mit dem Medikationsplan und der halbjährlichen Medikationsanalyse gute Instrumente in der Hand, um Fehler vermeiden zu helfen. Anspruch auf den Medikationsplan hat, wer dauerhaft mehr als drei Medikamente verschrieben bekommt. Dabei fällt schnell auf, ob jemand Medikamente nimmt, die sich nicht miteinander vertragen. Dasselbe gilt für die halbjährliche Medikationsanalyse, wo die Fachleute in der Apotheke sich jedes Präparat und die Kombination ansehen. Wichtig ist aber, dass die Apotheke den Gesamtüberblick bekommt, also auch von Nahrungsergänzungsmitteln oder rezeptfreien Schmerzmitteln erfährt.

Zunächst einmal müssen alle Berufsgruppen gemeinsam eine Kultur etablieren, überhaupt offen über Fehler zu sprechen. Wo eine solche offene Kommunikation herrscht, werden Rückfragen als Unterstützung und nicht als Vorwurf verstanden

Klingt, als wären die Apotheken perfekt …

Allwang: Es hat sich hier tatsächlich in den vergangenen Jahren schon viel bewegt. Aber besser geht immer. Wir müssen zum Beispiel noch viel mehr auf Möglichkeiten wie den Medikationsplan hinweisen. Und noch viel intensiver beraten. Dafür müssen wir uns die Erkrankten genau anschauen und uns die Frage stellen: Kommt er oder sie mit dem Medikament zurecht? Sind Tropfen die richtige Wahl oder wären Pillen besser? Wir können die Betroffenen auch bitten, das Dosieren oder richtige Einnehmen gemeinsam zu üben. Hier sollten wir viel offensiver werden. Denn das hilft, Fehler zu vermeiden.

Wie lautet Ihre Botschaft an Patientinnen und Patienten?

Allwang: Fragt nach! Fragt viel! Nutzt Angebote. In der Arztpraxis, in der Apotheke, in der Klinik, beim Pflegedienst. Bittet um Hilfe. Informationen und Unterstützung stehen euch zu. In Bezug auf eure Gesundheit darf euch nichts peinlich sein. Und in den allermeisten Fällen werdet ihr merken: Die Hilfsbereitschaft ist groß.