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Als die Notärztin beim Patienten ankommt, ist er kaum noch ansprechbar. Schon einmal hatte er nach einem Wespenstich einen Allergieschock erlitten. Droht ein erneutes Kreislaufversagen? Sehr wahrscheinlich. Die Ärztin spritzt sofort Epinephrin, ein Adrenalin, das den Kreislauf wieder ankurbeln soll. Doch der Patient verliert dennoch das Bewusstsein. Sie blickt erneut auf die Spritze – und erschrickt: Es war Ephedrin, ein Medikament, das zum Beispiel bei Asthma verabreicht wird. Nicht nur der Name, auch die Spritzen ähneln sich zum Verwechseln. Beides sind Notfallmedikamente.

Arzneimittel retten Leben

Der Fall ist erfunden. Doch könnte er durchaus so passieren. Darauf weist das Critical Incident Reporting System hin, kurz CIRS. Das anonyme Portal, auf dem Fachleute Beinah-Unfälle und bereits geschehene Pannen melden können, soll helfen, mögliche Fehlerquellen in der Medizin aufzudecken und daraus zu lernen. Denn davon gibt es gerade in der Arzneimitteltherapie eine Menge.

Was man nicht vergessen darf, wenn man über Risiken spricht: Medikamente retten weltweit Millionen Leben. Ob bei Infektionen oder Herzproblemen, Krebs oder Diabetes – die enormen Fortschritte in der Therapie sind eine Ursache dafür, dass die Lebenserwartung noch immer steigt. Nach einer US-Studie gehen 35 Prozent der Erhöhung auf Arzneimittel zurück.

Verschreibung und Einnahmen von Arzneien bieten hohes Fehlerpotential

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten: Die Arzneimitteltherapie ist sehr anfällig für Fehler. Medikamente können falsch verordnet, zubereitet, abgegeben, dosiert, verabreicht, gelagert oder auch vom Patienten oder der Patientin angewendet werden. In der Klinik wird zum Beispiel ein Medikament verabreicht, ohne zu erfragen, ob die Patientin darauf allergisch reagiert. In der Apotheke entschlüsselt eine pharmazeutische Fachkraft ein handschriftliches Rezept falsch.

Zu Hause vergisst ein älterer Patient, dass er die Pillen schon genommen hat – und schluckt sie noch mal. Ob aus Fahrlässigkeit, Unachtsamkeit oder mangelndem Wissen: Wo Menschen beteiligt sind, kommt es zu Fehlern. Und das noch mehr, wenn wie in der Medizin Zeitdruck und hohe Anforderungen hinzukommen.

Schwachstellen im System aufspüren

Prof. Dr. Hanna Seidling befasst sich seit vielen Jahren mit den Risiken, die entstehen, wenn Medikamente eingesetzt werden. Zusammen mit einer Kollegin leitet die Apothekerin beim Aktionsbündnis für Patientensicherheit in Berlin die Arbeitsgruppe „Arzneimitteltherapiesicherheit“. „Arzneimitteltherapie ist ein komplexer Prozess mit vielen Schnittstellen, an denen Kommunikation nötig ist“, sagt Seidling. „Dabei kann viel schiefgehen.“ Eine Folge: Etwa 2500 Menschen in Deutschland sterben jährlich aufgrund vermeidbarer Medikationsfehler, wie sich aus Untersuchungen ableiten lässt. Etwa 250.000 Menschen werden ins Krankenhaus eingeliefert. Die Kosten: rund eine Milliarde Euro.

Doch wie könnte eine Kur für das fehleranfällige System aussehen? Um diese Frage zu beantworten, ist es wichtig, die Schwachstellen aufzuspüren. „Fehler passieren oftmals an Übergängen der Versorgung“, erklärt Seidling. Etwa bei der Entlassung aus dem Krankenhaus oder der Verlegung ins Pflegeheim. Ein häufiges Problem ist die Weitergabe von Zusatzinformationen wie „einmal wöchentlich“. Ein besonders kritisches Beispiel ist ein Medikament, das unter anderem bei rheumatischen Erkrankungen verordnet wird: Methotrexat, kurz MTX. Einmal täglich angewendet, kann es sogar tödlich sein.

Häufige Verwechslungen

Dass gerade bei der Entlassung aus dem Krankenhaus viel schiefgeht, bestätigt auch Prof. Dr. Petra Thürmann, Direktorin des Philipp Klee-Instituts am Uniklinikum Wuppertal. Die Pharmakologin hat die Medikation von 150.000 älteren Menschen nach einem Klinikaufenthalt untersucht. Ein Ergebnis: Etwa 30 Prozent erhielten Arzneimittel, die für Ältere potenziell ungeeignet waren. „70 Prozent bekamen Medikamente zu lange oder in zu hohen Dosen“, so Thürmann.

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Doch nicht nur Schnittstellen bergen Risiken. Auch wenn sich wie im Eingangsbeispiel die Verpackungen ähneln, Arzneimittel leicht verwechselbare Namen haben, begünstigt das Missgeschicke. Dr. Charlotte Hölscher erinnert sich daran, wie ihr als Ärztin in einer Klinik selbst fast ein Fehler passierte. „Ich habe für einen Arztbrief ‚Atenolol‘ diktiert, ein häufiger Blutdrucksenker“, erzählt sie. „Die Mitarbeiterin, die das Diktat aufnahm, verstand ‚Arterenol‘, ein Wirkstoff, der den Blutdruck stark erhöht. Beim Korrekturlesen des Arztbriefes fiel der Fehler glücklicherweise auf. Zudem gibt es das Mittel nicht als Tablette, sondern nur zum Spritzen. Von daher wäre der Fehler spätestens in der Apotheke schnell bemerkt worden. Dennoch zeigt das Beispiel, wie leicht Verwechslungen passieren können.“

Viele Fälle bleiben unentdeckt

Inzwischen arbeitet Hölscher nicht mehr in der Klinik. Sie ist beim Medizinischen Dienst Bund in Essen zuständig für Patientensicherheit. Besteht ein begründeter Verdacht, können sich Patientinnen und Patienten an ihre Krankenkasse wenden. Diese kann den Vorwurf eines Behandlungsfehlers durch den Medizinischen Dienst prüfen lassen. Im Jahr 2022 konnten so 208 Medikationsfehler bestätigt werden. „Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Hölscher.

Viele Verdachtsfälle landen bei Gericht oder den Schlichtungsstellen der Ärztekammern. Die meisten aber, das lassen Umfragen vermuten, werden von den Betroffenen nicht angezeigt – oder auch nicht bemerkt. Denn wenn in der Klinik ein falsches Medikament verordnet wird: Wie soll der Betroffene wissen, dass seine Beschwerden daher kommen? „Die Ärztinnen und Ärzte sind nur auf Nachfrage oder um gesundheitliche Gefahren abzuwenden verpflichtet, den Betroffenen mitzuteilen, dass ein Fehler passiert ist“, sagt Hölscher. Für sie eine unhaltbare Situation.

Die Ärztinnen und Ärzte sind nur auf Nachfrage oder um gesundheitliche Gefahren abzuwenden verpflichtet, den Betroffenen mitzuteilen, dass ein Fehler passiert ist

Forderung nach mehr Kontrollen

Eine Forderung des Medizinischen Dienstes ist daher schon länger die Einführung einer Meldepflicht von bestimmten schwerwiegenden Behandlungsfehlern. In anderen Ländern wie Großbritannien gibt es diese bereits. Auch Seidling ist der Ansicht, dass solche Never Events verpflichtend zentral erfasst werden sollten. So bezeichnet man Fehler, die eigentlich nicht passieren dürften. Wie etwa die Verwechslung eines Medikaments.

Sinnvoll wäre mehr Kontrolle auch, weil es bei der Fehlerkultur in der hierarchischen Welt der Medizin noch immer eine Menge Luft nach oben gibt. Wer Pannen anspricht, werde schnell zum „Nestbeschmutzer“. „Statt Fehler zu verschweigen, ist ein offener Umgang mit Fehlern wichtig, um daraus lernen zu können“, betont Hölscher.

Bessere Arbeitsbedingungen könnten Fehlerquote verringern

Seidling sieht die Situation deutlich optimistischer. „Es hat sich schon viel verbessert“, bekräftigt sie. Das zeigten etwa Projekte wie „Jeder Fehler zählt“. Auf dem Online-Portal für Hausarztpraxen können Fehler anonym berichtet werden, damit andere daraus lernen. Auch im Medizinstudium wird das Thema Patientensicherheit immer wichtiger. Seit dem Wintersemester 2022 gibt es an den Universitäten Bonn, Heidelberg und Tübingen erstmals einen eigenen berufsbegleitenden Masterstudiengang Arzneimitteltherapiesicherheit.

Um die Situation zu verbessern, wäre nach Ansicht der Expertinnen neben einer Meldepflicht ein Bündel von Maßnahmen sinnvoll: allen voran eine verbesserte Arbeitssituation in den medizinischen Berufen. Dazu gehört vor allem mehr Personal. Auch standardisierte Doppelkontrollen oder Checklisten helfen, an bestimmten Punkten Fehler zu vermeiden. Große Hoffnungen liegen zudem auf der digitalen Patientenakte, die ab 2025 verpflichtend eingeführt werden soll.

Um Fehler zu vermeiden, können aber schon heute alle etwas beitragen, die Medikamente einnehmen. Zum Beispiel, indem sie die richtigen Fragen stellen. „Bevor man zum Arzt geht, aber auch, wenn man aus dem Krankenhaus entlassen wird, sollte man sich für das Abschlussgespräch eine Liste machen“, rät Seidling. Und wenn noch Unklarheiten bleiben, in der Apotheke seines Vertrauens nachfragen. Eine nicht zu unterschätzende Säule der Therapiesicherheit sind die Patientinnen und Patienten selbst. Damit diese trägt, ist es wichtig, die eigene Therapie zu verstehen.


Quellen:

  • Netzwerk CIRS Berlin: Fall des Monats Oktober 2023, Beinahe-Verwechslung von Spritzen (Ephedrin - Epinephrin). Online: https://www.cirs-berlin.de/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • Medizinischer Dienst : Behandlungsfehlerbegutachtung 2022: Immer wieder die gleichen Fehler. Online: https://www.medizinischerdienst.de/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft: Überdosierung von Methotrexat durch versehentliche tägliche anstatt wöchentliche Gabe, Drug Safety Mail 2023-50. Online: https://www.akdae.de/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • Akionsbündnis Patientensicherheit: Medikationsfehler, Eine Auswertung verschiedener Fehler- /Schadensregister. Online: https://www.aps-ev.de/... (Abgerufen am 25.06.2024)
  • Lynch S S: Medikationsfehler, MD Manual Ausgabe für medizinische Fachkreise. Online: https://www.msdmanuals.com/... (Abgerufen am 25.06.2024)